Interview mit Alexander Kluge

Alexander Kluge übernimmt die Stiftungsgastdozentur Poetik im Sommersemester 2012

Veröffentlicht am: Donnerstag, 24. Mai 2012, 08:11 Uhr (020)

 
Herr Kluge, Sie haben in Frankfurt studiert und geforscht und wichtige Denker wie Adorno persönlich kennen gelernt. Ist der Geist der Kritischen Theorie für Sie heute noch ein Bezugspunkt Ihres Denkens, auch hinsichtlich des Erzählens?

Ich habe in Frankfurt vor allem fast alle meine Filme gedreht, und lange dort gelebt. Das war schon nach dem Tod Adornos. Für mich ist die Kritische Theorie nach wie vor der entscheidende Gravitationspunkt. Ich bin sozusagen der Poet dieser Theorie. Diese Theorie ist übrigens eine Haltung, die ich über die Jahre hinweg für entscheidend halte. Sie sagt im Jahr 1932: Eine Theorie, die das Dritte Reich und die Barbarei nicht, ehe sie beginnt, aufhält, taugt nichts. Nachträglich betrachtet: Wir müssen Denken und Haltung, also das was man kritisch nennt, radikal ändern.

Ihre Vorlesungen sind überschrieben mit „Theorie der Erzählung“. Stimmt der Eindruck, dass für Sie der in der traditionellen Literaturwissenschaft immer wieder betonte kategoriale Unterschied zwischen Fiktionalität und Faktualität keine oder eine eher untergeordnete Rolle spielt?

Narration und Information sind verschiedene Aggregatzustände der Erfahrung. In der Erzählung geraten Fiktion und Tatsachen zueinander. „Erlöst die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit.“ Ohne die subjektive Seite, die wir emotional nennen, die aber in Wahrheit aus einem Tausendfüßler von Unterscheidungsvermögen besteht, also das Rationalste ist, was wir haben, kann man mit Tatsachen nicht umgehen. Subjektiv-objektiv sind alle Menschen veranlagt. Das gilt für den Leser und für den Autor. Je öfter sie den Tatsachen ihre Wirklichkeit absprechen und den Wünschen deren Wirklichkeit zusprechen, desto erfahrungsreicher wird das Wechselbad.

Sie sprechen von dem „Erzählraum der Wirklichkeit selbst“. Wie darf man das verstehen, was heißt das für einen zeitgemäßen (literarischen) Realismus, was wären die Anforderungen an einen solchen, vor dem Hintergrund medialer Veränderungen?

In einer Welt, in der auf unserem Planeten 7 Milliarden Menschen leben, hat sich die Wirklichkeit insofern verändert, als deren Maße gegenüber meinem Geburtsjahr 1932 nachhaltig größer geworden sind. Diesen Wirklichkeitsmassen müssen wir uns stellen. Dies ist der „Erzählraum der Wirklichkeit“. Es ist der gleiche Raum für Leser und Autoren. Texte, die für die wirklichen Verhältnisse ohne Relevanz sind, wären eigentümlich unrealistisch. Ich spreche aber vom „Erzählraum“, das was ich erzähle ist ein Zweites: Dieses Erzählen hat eine gewisse Autonomie gegenüber dem, worüber erzählt wird. Es kommt etwas hinzu: die Wirklichkeiten selber sind ja eine Erzählung. So wie wir Menschen unsere Vorgeschichte in unseren Körpern und in unserem Geist als Erzählung mit uns tragen.

Hat Sie die Wiederkehr einer illusionistischen, oftmals eher naiven Erzählliteratur in den letzten Jahren überrascht? Hat demgegenüber eine experimentelle Literatur noch eine Chance, wahrgenommen zu werden?

Ich finde die Erzählliteratur der letzten Jahre weder naiv noch illusionistisch. Die Moderne wiederum in der Literatur ist kein Experiment. Sie ist Ausdruck. Notwendiger Ausdruck entsteht immer zugleich in den Lesern und bei den Autoren. Er ist deshalb Avantgarde oder Arrièregarde, er ist wagemutig und erweitert die Horizonte und die Modi des Erzählens, aber man soll ihn nicht experimentell nennen. Erzählen ist kein Versuch, sondern etwas Reales. Selbst dann, wenn das Produkt Essay heißt. Die Chancen, wahrgenommen zu werden, sind übrigens in einer Welt des Internets größer als je zuvor, weil ein Garten oder eine Oase in der Masse der verbreiteten Information leicht (und mit Lust) wahrgenommen werden kann.

Eine (kurze) Frage zum Oberhausener Manifest, das sich in diesem Jahr zum 50. Mal jährt. Sie gehörten damals zu den Unterzeichnern – würden Sie sagen, dass das Manifest heute noch aktuell ist?

Das Manifest ist heute so aktuell wie 1962. Man soll jenes Jahr vor 50 Jahren nicht unterschätzen. Die Welt war jung.

Die Fragen stellten Anne-Marie Bernhard und Dirk Frank


Das Interview ist im UniReport, Ausgabe 3-2012 (PDF) erschienen.

Weitere Informationen: Prof. Dr. Susanne Komfort-Hein und Anne-Marie Bernhard (M.A.), Stiftungsgastdozentur für Poetik, Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, IG Farben Haus, Grüneburgplatz 1 Tel: (069) 798-32855; poetik@lingua.uni-frankfurt. de; www.poetikvorlesung.uni-frankfurt.de