Ordnungen religiösen Wissens

Inhalt

Wissen stellte zu allen Zeiten der Geschichte eine wichtige herrschaftslegitimierende, macht- und einflusssichernde Ressource dar. Wissen war über lange Jahrhunderte ein Status- und Standesmerkmal. So ist es nicht verwunderlich, dass im Verlauf von Prozessen der Wissensakumulation, - sicherung und -distribution Konflikte in enger Verbindung mit komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen gegeben. Diese haben sowohl endo- wie exogene Ursprünge. Christliche Theologie innerhalb von Diskursen über ihre Berechtigung, Inhalte, Formationen und Artikulationen, die gleichermaßen von außen, d.h. einem christumsfeindlichen oder –neutralen, oder auch alternativen Umfeld, als auch von innen, d.h. von alternativen Denkmodellen, Kulturen oder Ausdrucks- und Verhaltensformen her an das christliche Selbstverständnis herangetragen werden.
Der Blick auf bildungs- und wissensgeschichtliche Entwicklungen innerhalb der christlichen Theologie Westeuropas erweist sich als ein Fokus innerhalb dessen exemplarisch zahlreiche Perspektiven: die Ressource Wissens erweist sich als ein zentrales Phänomen von Organisations- und Verteilungskonflikten. Nicht nur in ihrer trivialen Fassung, wonach Wissen Macht sichert, sondern auch in den differenzierteren Entwicklungen der zunächst ständischen und später schichtenübergreifenden Emanzipation durch Bildung, insbesondere aber im Kontext der soziale horizontale Mobilität ermöglichenden Elitenbildung werden zahlreiche Auseinandersetzungen um die Verfügbarkeit, Organisation und Diffusion handlungsorientierenden Wissens geführt. Freilich ist die utilitaristische Perspektive nur eine von vielen. Es gibt seit dem Mittelalter auch anders begründete wissensbezogene Ressourcenkonflikte, etwa aufgrund religiös-christlicher Überzeugungen, sprachlicher-kultureller Zugänge oder auch ethnischer oder sozialer Zugriffe.
Allerdings wird nicht erst seit den breit rezipierten Arbeiten Michel Foucaults zur „Archäologie des Wissens“ oder der „Ordnung der Dinge“ die Organisation des Wissens historiographisch, freilich sehr stark im Fokus von Machterwerbungs- oder -erhaltungsstrategien erfasst. Die historiographische Forschung vollzieht sich häufig in disziplinärer Beschränkung, chronologischer Eingrenzung und insbesondere im Kontext der frühneuzeitlichen Bildungsorganisation unter utilitaristischer Perspektive der säkularisierenden Professionalisierung. Die Projekte versuchen in einer epochenübergreifenden, interdisziplinären Zusammenarbeit das Phänomen der Wissensorganisation konzentriert auf religiös-theologisches Wissen in breiterer Perspektive als dem bloßen Zwang zur Leitungs-Elitenbildung und Professionsforschung zu umreißen. Zugleich werden auch die Impulse, die sowohl durch die Umwelteinflüsse (Erweiterung des geographischen und materialen Wissens durch die Latinisierung vormaliger griechischer und ins Arabische übersetzter Quellen aus der Antike, Entdeckungsfahrten in den vorderen und mittleren Orient sowie die Nordhälfte des afrikanischen Kontinents, Entstehung neuer Methoden der Epistemik und Logik, sowie damit verbunden eines gegenüber der spätantiken Tradition erheblich veränderten, innovativen Wissenschaftsbegriffes seit dem 11. Jahrhundert) wie auch innerdisziplinäre Herausforderungen (Logik des Petrus Abaelardus, Diskussion des Wahrheitsbegriffes im interreligiösen Kontakt, etc.) zu identifizieren sein, die zu Veränderungen überlieferter Wissensorganisation zwingen.
Folgt man der jüngeren Säkularisierungsdebatte stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Innovation, Moderne und Säkularisierung. Dies besonders vor dem Hintergrund der konfessionellen Differenzierung im 16. Jahrhundert und deren reichs- und territorial-rechtlicher Sicherung und den damit verbundenen Strategien der kontroverstheologischen und konfessionelle Identität legitimierenden bzw. sichernden Wissensvermittlung.

Wie wurde Wissen systematisiert? Welche funktionalen, theologischen, utilitaristischen, ästhetischen etc. Referenzwerte bestimmten die jeweiligen Ordnungen? In welcher Weise verändern sich diese Ordnungen unter dem Einfluss politischer, kultureller oder gesellschaftlicher Entwicklungen? Inwieweit werden konfessionelle (Bildungs-)Kulturen, die einsetzende Säkularisierung, sowie die immense Differenzierung bei der Entstehung moderner Wissenschaftsverständnisse und-theorien im Zeitalter der Aufklärung sowie möglicherweise schon früher unter dem Eindruck sich verschiebender Leitwissenschaften ausgebildet und verändert? Besondere Aufmerksamkeit gilt den sich aus den wissensorganisierenden Maßnahmen ergebenden Konflikte um die Kanonisierung des Wissens, das Verhältnis zur Tradition sowie des Umgangs mit den Wissensressourcen (Bibliotheken, Archive, Textsammlungen, Florilegien, etc.) sowie der Rückbindung dieser Diskurse an die Problematik der Inszenierungen und Artikulationen von Differenz.
Zuzuspitzen ist dieser Ansatz, der leicht ins Uferlose geraten kann, dahingehend, dass nach der Ordnung des Wissens unter den Bedingungen einer sich in aktuellen Diskursen mit ihren Bestreitern und Kritikern entfaltenden Theologischen Wissenschaft gefragt wird. Dadurch wird zum einem die oben kritisierte utilitaristische Interpretation von Theologie als Kontroverstheologie oder Diskurswissenschaft zementiert, zu welcher sich die Wissensordnungen als Mittel zum Zweck verstehen. Dieser Engführung sind – zunächst hypothetisch - auch andere Bedingungen der Systematisierung religiösen Wissens komplementär entgegen zu setzen.
Sicherlich sind im Zuge der immer stärkeren Differenzierung der theologischen Wissenschaften die Frage nach der Abgrenzung und die Benennung von Differenzkriterien bedeutsam. Insofern wird der Aspekt, dass Theologie im Konflikt aus dem Diskurs heraus entsteht, nicht ganz verdrängt werden dürfen.
Ein erhebliches Problem der Reflexion alternativer Entwürfe stellt die in allen theologischen Diskursen, insbesondere aber bei Wissensreflektionen ständig gegenwärtige Wahrheitsfrage. Sie stellt sich nicht erst mit dem Zerbrechen einer - wie auch immer im Einzelnen institutionalisierten, performierten und artikulierten - Einheit des lateinischen Wissenskanons unter den Bedingungen von Reformation und Konfessionalisierung. Sicherlich ist dies ein Brennpunkt bisheriger Forschung. Freilich ist zu vermuten, dass diese Problematik auch schon früher bzw. später in anderen Kontexten lebendig war. Die Mitarbeitenden der Professur gehen auf drei Forschungsfeldern diesen Fragen nach:

  • 1. Die Universität Wittenberg als Vorbild und Keimzelle europaweiter konfessioneller Wissensvermittlung
  • 2. Transformationen und Innovationen im Bildungsbegriff zwischen Reformation und Aufklärung
  • 3. Arbeitskreis Religion und Aufklärung



Die Universität Wittenberg als Vorbild und Keimzelle europaweiter konfessioneller Wissensvermittlung

Unterstützt aus Mitteln des Landes Sachsen-Anhalt und der Stiftung Leucorea Wittenberg beantragen die Professoren Matthias Asche (Tübingen), Heiner Lück (Halle) und Wolfgang Eckart (Heidelberg) gemeinsam mit Markus Wriedt (Frankfurt) Mittel zur Auswertung der bestens erhaltenen Matrikel der Universität Wittenberg zwischen 1502 und 1650: Die bedeutende Rolle und Prägekraft von vormodernen Universitäten und Hohen Schulen als Orte der Speicherung, Ordnung und Selektion, des Exports, der Distribution und Diffusion von gelehrten und konfessionellen Wissensbeständen ist unbestritten. In besonderer Weise gilt dies für die Universität Wittenberg, an welcher seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts mit Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen und anderen Gelehrten die maßgeblichen Häupter der Reformation wirkten. Die „Weltwirkung der Reformation“ (Gerhard Ritter) Wittenberger Prägung und die Attraktivität der dortigen Professoren wird pauschalierend immer wieder betont, ohne daß dies mit belastbaren Daten, etwa zu den quantitativen Dimensionen von Lehrer-Schüler-Beziehungen, differenziert belegt worden ist. Das Forschungsprojekt wird – vor dem Hintergrund der konfessionellen Systemkonkurrenz – studentische Migrations- und gelehrte Mobilitätsphänomene sichtbar machen, maßgebliche Bedingungsfaktoren für die Elitenbildung im Kontext der allgemeinen europäischen Kultur- und Wissensgeschichte aufzeigen sowie damit die Funktions- und Wirkweise des Universitätswesens als Ort der Wissenstransfers analysieren. Grundlage des Forschungsprojekts bildet zunächst die vollständige Überführung der Wittenberger Universitätsmatrikeln für den Zeitraum von der Gründung (1502) bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) in eine relationale Datenbank. Darüber hinaus werden weitere serielle Quellen zur Wittenberger Universitätsgeschichte, etwa Promotionsverzeichnisse und Ordinationsbücher, in die Datenbank eingepflegt. In einem zweiten Schritt werden einerseits für die im Untersuchungszeitraum lehrenden Professoren, andererseits für deren Schüler – nämlich die von diesen an der Leucorea an den vier Fakultäten Graduierten (Magister, Doctores) – einer vertieften Analyse unterzogen. Nur für die Professoren und die Graduierten werden weitere personenbezogene Daten ermittelt: neben den im engeren Sinne biographischen Informationen, etwa zu Herkunft und Verwandtschaft, auch die weiteren Lebens- und Karrierewege sowie Werkverzeichnisse. Durch diese Informationen werden erstmals quantitativ abgesicherte Aussagen zu Bildungsprofilen akademischer Eliten und ihrer Mobilität, zu Distributions- und Diffusionsprozessen von in Wittenberg angeeigneten gelehrten Wissensbeständen sowie zu konfessionellen Orientierungen und Optionen möglich. Darüber hinaus werden die durch die Wittenberger Graduierten geschaffenen lokal, territorial und überregional wirksamen personellen und institutionellen Netzwerke deutlich, mithin Klientel- und Patronagebeziehungen zwischen der Leucorea und den über weite Teile Europas verstreuten Heimatorten und -regionen ihrer Professoren und graduierten Absolventen, um auf diese Weise differenzierte Aussagen zur Ausstrahlungs- und Prägekraft der Universität Wittenberg als protestantisches Gravitations- und geistig-wissenschaftliches Distributionszentrum im Konfessionellen Zeitalter machen zu können.

Veröffentlichungen:

  • Johannes von Staupitz als Gründungsmitglied der Wittenberger Universität, in: 700 Jahre Wittenberg. Stadt–Universität–Reformation. Hg.: Stefan Oehmig. Weimar 1995, S. 173-186.
  • Die Anfänge der Theologischen Fakultät Wittenberg 1502-1518, in: Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500 Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea. Hgg.: Irene Dingel und Günther Wartenberg. Redaktion: Michael Beyer (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 5), Leipzig 2002, S. 11-37.
  • Durch Bildung zurück zur Einheit. Das ökumenische Potential der Bildungsreform Philipp Melanchthons, in: Konfrontation und Dialog. Philipp Melanchthons Beitrag zu einer ökumenischen Hermeneutik. Hg.:Günter Frank und Stephan Meier-Oeser. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2006, S. 139-176.
  • Hgg: mit Matthias Asche, Heiner Lück, Manfred Rudersdorf: Der ‚späte Melanchthon‘. Die Universität Wittenberg in der Mitte des 16. Jahrhunderts, Leipzig 2013.

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Transformationen und Innovationen im Bildungsbegriff zwischen Reformation und Aufklärung

Die seit dem ausgehenden Mittelalter vorherrschende Bedeutung und theoretische Begründung des Bildungsgedankens, welche sowohl durch humanistische Akzentuierungen, wie auch inhaltlicher Fokussierungen, die sich der in der Tradition seit dem 16. Jahrhundert verstärkt rezipierten neu-platonisch, augustinischen Deutung anschließen, mitgestaltet wurde, erfährt in der Folge dieser Beeinflussungen eine spezifische, im Effekt säkularisierende, weil entkirchlichende und desakralisierende Transformation. Der Mensch versteht sich immer noch als Abbild Gottes, auf das hin er sich nun freilich auch mit eigener Anstrengung zurück entwickeln sollte, indem er sich – durchaus unter dem Einfluss einer in säkularen Kategorien gedachten Gnade, hier konkret der erzieherischen Zuwendung des Pädagogen –auf das Ziel einer menschlichen Vervollkommnung hin fortentwickelt. Insofern diese Entwicklung noch vor der flächendeckenden philosophischen Behauptung des Menschen als eines autonom handelnden Subjekts stattfindet, ist freilich weniger von einer Selbstentwicklung, als vielmehr einer Entwicklung unter dem Einfluss einer die Formungsmöglichkeiten der menschlichen Seele ausnutzenden pädagogischen Übung zu verstehen. Das Projekt versucht nachzuweisen, wie die theologische Aufklärung im Bildungsdiskurs einerseits den theologisch begründeten Bildungsbegriff transformiert, andererseits dabei aber – zeitweilig entgegen der eigenen Intention – zu einem erheblichen, weiteren Säkularisierungsschub Anlass gibt.

Veröffentlichungen:

  • Continuity and Competition. Luther's Call for educational reform in the light of medieval precedents, Reformations Old and New. Essays on the Socio -Economic Impact of Religious Change c. 1470-1630. Hg.: Beat A. Kümin. (St. Andrews Studies in Reformation History) Aldershot 1995, S. 171-184.
  • Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 14. Februar 1997, Hgg.: Michael Beyer und Günter Wartenberg unter Mitwirkung von Hans Peter Hasse. Leipzig, 1996, S. 155-184.
  • Bildung und Konfession. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung. Hg.: Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt (SuR NR) Tübingen, Mohr: Siebeck 2006.
  • Elitenbildung und Migration. Theologenausbildung im Zeitalter der Konfessionalisierung II. Hg.: Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt, Leiden: Brill 2007.
  • Kirchen- und Schulordnungen. Dokumente des kulturellen Wandels im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung am Beispiel der Kirchen-, Spital- und Schulordnung des Johann Mathesius von 1551, in: Kommunikation und Transfer im Christentum der frühen Neuzeit. Hg.:Irene Dingel und Wolf-Friedrich Schäufele, Mainz: Zabern 2007, S. 69-94.
  • Säkularisierung wider Willen. Der säkularisierende Modernisierungsschub infolge der reformatorischen Schul-und Universitätsreform, in: Hans-Ulrich Musolff, Juliane Jacobi, Jean-Luc Le Cam (Hgg.): Säkularisierung vor der Aufklärung. Bildung, Kirche und Religion 1400-1750, Köln: Böhlau, 2008, S. 57-75.
  • Erleuchtete Pietas –fromme Erudition. Zum Wandel des theologischen Bildungsverständnisses im Zeitalter der Aufklärung, in: Spurensuche hg. von Wolfgang Flügel, Leipzig 2013.

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