Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preisträger*innen 2013

Von der Macht der Genetik 

Die Genetik informiert über Abstammung, Veranlagungen und Merkmale. Sie hilft komplexe Erkrankungen besser zu verstehen und kann zum Wohlergehen der menschlichen Rasse betragen. Der mit 100.000 Euro dotierte Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis ging 2013 an eine Wissenschaftlerin, die dies auf einzigartige Weise dokumentiert hat, an Mary-Claire King, American Cancer Society Professorin am Department of Medicine and Genomic Sciences der University of Washington in Seattle. Ihr Name steht für vier Entdeckungen, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich erscheinen mögen, deren gemeinsame Klammer aber immer die Genetik ist.

Genetisch sind Mensch und Schimpanse zu 99% identisch

Mary-Claire King hat bereits 1975, also Jahrzehnte vor der massenhaften Sequenzierung von Genomen, gezeigt, dass das Erbgut des Menschen und das des Schimpansen zu 99% identisch sind. Abgeleitet hat sie diese Erkenntnis aus Proteinanalysen und Hybridisierungen. Ihre Untersuchungsergebnisse legten außerdem nahe, dass sich die Linie der Hominiden und die Linie der Schimpansen in der Evolution erst später als damals angenommen, getrennt haben. Die Genetikerin äußerte auch die Vermutung, dass die offensichtliche Ungleichheit zwischen Mensch und Schimpanse durch eine unterschiedliche Regulierung der Gene zustande kommt. Das humane Genom wurde fünfundzwanzig Jahre (2000) später, das des Schimpansen dreißig Jahre (2005) später vollständig entschlüsselt. Der direkte Vergleich der DNA-Sequenzen zeigte, dass King recht gehabt hatte. Die Genome sind tatsächlich nahezu identisch. „Konzeptionell haben wir also völlig richtig gelegen“, sagt die Wissenschaftlerin heute über ihre Arbeit. „Konzepte sind in der Regel sehr konserviert, nur die Methoden entwickeln sich schnell weiter.“ Als Ursachen für die evidenten Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse hat die Genomforschung drei Prinzipien identifiziert, die regulatorischen RNAs, die Epigenetik und die Erkenntnis, dass Gene nur eine Facette in einem hochdynamischen und hochkomplexen Netzwerk von äußeren und inneren Einflüssen sind.

Gene für erblichen Brustkrebs

Mary-Claire King hat sich seit 1974 intensiv mit der genetischen Disposition für Krebs beschäftigt. Sie konnte zeigen, dass Brust- und Eierstockkrebs in einigen Familien autosomal dominant vererbt werden. Einige der verantwortlichen Mutationen liegen in einem Gen, das sie BRCA1 nannte, für breast cancer susceptibility gene 1. King hat diesen Zusammenhang zunächst über statistische Analyse nachgewiesen, später über Koppelungsanalysen und schließlich über die Zuordnung des Gens zu einem Chromosom. 1990 gab King die ungefähre Lage des BRCA1-Gens im humanen Erbgut bekannt: Position 17q21. Danach setzte ein Kopf an Kopf Rennen um die Isolierung des Gens ein, das Myriad Genetics 1994 für sich entscheiden konnte. King hat später die komplette Sequenz der 84 Kilobasen großen BRCA1- Lokus vorgelegt.

BRCA1 und das später identifizierte BRCA2-Gen sind Tumorsuppressorgene. Die entsprechenden Proteine haben die Aufgabe, die Stabilität der DNA zu gewährleisten und unkontrolliertes Wachstum zu verhindern. Die Mutationen geben den Trägerinnen ein erhöhtes Risiko für Brust- und Eierstockkrebs mit auf den Lebensweg. Etwa fünf bis zehn Prozent aller Brustkrebserkrankungen und zehn bis fünfzehn Prozent alle Eierstockkrebserkrankungen gehen auf BRCA-Mutationen zurück. King hat auch das genaue Erkrankungsrisiko kalkuliert. „Bei schwerwiegenden Mutationen liegt es für Brustkrebs bei 80%“, für Eierstockkrebs bei 40%“, sagt die Genetikerin. „Das heißt, dass 800 von 1000 Frauen mit schwerwiegenden BRCA-Mutationen im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs erkranken werden und 400 von 1000 Frauen mit schwerwiegenden BRCA-Mutationen werden im Laufe ihres Lebens Eierstockkrebs entwickeln. In der Allgemeinbevölkerung werden 120 von 1000 Frauen an Brustkrebs erkranken, weniger als 10 von 1000 Frauen werden Eierstockkrebs entwickeln“, so King weiter. Die Genetikerin hat auch neue Methoden zur genetischen Diagnostik von diesen und anderen Brustkrebsmutationen entwickelt, deren kommerzielle Nutzung in den USA aber noch durch das seinerzeit an Myriad Genetics gegangene Patent blockiert ist.

Mary-Claire Kings Forschungsleistungen haben die Rolle der Genetik in der Medizin verändert. Sie hat durch die Identifizierung des BRCA1 Gens gezeigt, dass Mutationen auch bei häufigen Erkrankungen eine Rolle spielen. Die Genetik hatte sich bis dahin nur mit monogenetischen Erkrankungen beschäftigt, bei denen ein einzelner Gendefekt sicher zur Erkrankung führt, wo also die Mutation der Krankheit gleichkommt. Das ist zum Beispiel bei der Chorea Huntington, dem Veitstanz, der Fall. King hat bewiesen, dass Mutationen auch bei komplexen, multifaktoriellen Erkrankungen, die zudem noch von der Umwelt und dem Lebensstil beeinflusst werden, eine Rolle spielen. Die Entdeckung von BRCA1 und BRCA2 sowie weiterer Brustkrebs-Gene hat dazu geführt, dass es heute überall Programme für Frauen mit erblichem Brustkrebs gibt. Auch in Deutschland existiert ein Konsortium für Familiären Brust- und Eierstockkrebs mit zwölf über die Bundesrepublik verteilten Zentren. Dort können sich Frauen genetisch beraten und auf etwaige Mutationen testen lassen. Kings Entdeckungen haben somit den Umgang mit erblichem Brustkrebs erheblich verändert.

Weitere Krankheitsgene und die genetischen Grundlagen von Diversität

Mary-Claire King hat in den vergangenen Jahrzehnten weitere medizinisch relevante Genmutationen identifiziert. Die Krankheiten, bei denen diese Mutationen eine Rolle spielen sind unter anderem angeborene Taubheit, Schizophrenie, Autismus und systemischer Lupus Lupus erythematodes. Das erste autosomale Gen für angeborene Taubheit mit dem Namen DFNA1 hat King zusammen mit Kollegen aus Costa Rica kartiert und später isoliert. Mit Kollegen aus Israel und Palästina hat sie vier weitere Gene für diese Erkrankung identifiziert. Angeborene Taubheit kommt im Nahen Osten besonders häufig vor. Ihr aktuelles Interesse gilt vor allem der Schizophrenie. „Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass viele Fälle von Schizophrenie auf Mutationen zurückgehen, die während der Embryonalentwicklung neu entstehen“, sagt King. Diese Erkrankungen sind dann genetisch bedingt, aber nicht vererbt worden, sondern erworben“. King vermutet, dass die neuentstandenen Mutationen die Gehirnentwicklung beeinträchtigen, und dadurch zur Entstehung der Schizophrenie beitragen. King hat auch untersucht, was Gene über die Evolution verraten. Wenn sich Menschen an einen anderen Ort bewegen, nehmen sie ihre Gene mit und geben sie an ihrem neuen Standort an ihre Nachkommenschaft weiter. Deshalb ist das Genom des modernen Homo sapiens auch ein Logbuch über die Reisen und Begegnungen unserer Vorfahren und ein Kompendium zur Vielfalt menschlichen Lebens.

Familien zusammenführen und Opfern einen Namen geben

Mary-Claire King genießt auch hohes Ansehen wegen ihres humanitären Engagements, weil sie genetische Methoden nutzt, um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Seit 1984 arbeitet sie mit den Großmüttern des Plaza de Mayo in Argentinien (Abuelas de Plaza de Mayo) zusammen. Diese Großmütter wollen ihre Enkelkinder, die zwischen 1976 und 1983 von der Militärjunta entführt, zu Waisen gemacht und an Sympathisanten der Militärjunta zur Adoption weitergereicht wurden, wieder in ihre Herkunftsfamilien zurückholen. Weil die argentinischen Behörden stichhaltige Beweise für die biologische Zugehörigkeit der Kinder verlangt hatten, waren die Abulelas 1983 an die American Association for the Advancement of Science herangetreten und baten um Unterstützung. Diese erhielten sie von Mary-Claire King. „Ich habe damals zugesagt“, erklärt die Preisträgerin, „weil mir das Anliegen der Großmütter sehr nahe ging. Meine eigene Tochter war in dem Alter der Enkelkinder, um die sie kämpften und ich selbst war in dem Alter der Frauen, die diese Kinder geboren hatten und von der Militärjunta getötet worden waren“. King war außerdem während der Zeit des Militärputsches Gastprofessorin in Santiago de Chile. Sie wusste also, wozu eine Militärregierung fähig war. King hat die Kinder zunächst anhand von Gewebemerkmalen, sogenannten HLA-Markern, identifiziert, später durch genetische Methoden. Ihren ersten Sieg konnte sie Weihnachten 1984 verbuchen. Damals entschied der argentinische Supreme Court, dass Paula Logares, eines der vermissten Kinder, das eindeutig über die HLA Typisierung identifiziert worden war, an ihre biologische Familie zurückgegeben werden musste. Bisher konnten 87 der heute erwachsenen Kinder ihrer Herkunftsfamilie zugeordnet werden.

King hat auch Methoden für die forensische Genetik entwickelt. Etwa wie man das das Erbgut der Mitochondrien aus Knochen und Zähnen isoliert. Die Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen. Ihr Erbgut ist aus einem ganz bestimmten Grund interessant. Die DNA der Mitochondrien stammt nämlich immer von der Mutter, weil der Teil des Spermiums, der mit der Eizelle verschmilzt keine Mitochondrien enthält. Folglich haben Söhne und Töchter die gleiche mitochondrale DNA wie ihre Mütter. Die Töchter geben diese dann wieder an ihre Nachkommen weiter. Alle weiblichen Nachfahren einer mütterlichen Linie haben demnach immer dieselbe DNA in ihren Mitochondrien. Man kann über diese Methode die weibliche Abstammungslinie einwandfrei nachvollziehen. King ist es gelungen, diese DNA aus Zähnen zu extrahieren. Viele menschliche Überreste sind so stark verwest, dass man keine Haare oder Gewebereste mehr untersuchen kann. In den Knochen ist die DNA oft zu zerstückelt für eine zweifelsfreie Untersuchung. In den Zähnen bleibt das Erbgut am besten erhalten. Deshalb werden heute oft die Zähne der Toten untersucht, um Opfern wieder einen Namen, eine Identität und eine Lebens- und Leidensgeschichte zu geben. King arbeitet mit dem UN Kriegsverbrechertribunal zusammen. Ihr Labor ist ein sicheres „DNA Identification Lab“, auf dessen Arbeit keine Kreispartei und kein Terrorregime Zugriff haben. King und ihre Mitarbeiter haben unter anderem Opfer aus Kambodscha, Guatemala, El Salvador, Ruanda, Äthiopien und Bosnien identifiziert. Sie war auch an der zweifelsfreien Identifizierung der Romanows beteiligt, der letzten Zarenfamilie, die in der Nacht zum 17. Juli 1918 in Jekaterienburg erschossen und dann im Wald vergraben worden war. „Weil die forensische Genetik heute weltweit einen hohen Standard hat, werden wir nur noch in besonderen Fällen konsultiert oder wenn eine ungehinderte Analyse nicht möglich erscheint, sagt King über ihr heutiges Engagement.“ Ihre Arbeit hat über Jahrzehnte Standards gesetzt.

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