Heidemarie Wieczorek-Zeul

Von1998 bis 2009 war Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Nach Ihrem Studium von 1961 bis 1965 in den Fächern Englisch und Geschichte arbeitete sie neun Jahre an der Friedrich-Ebert-Schule in Rüsselsheim, wo sie von 1968 bis 1972 ihr erstes politisches Amt als Stadtverordnete inne hatte.1974 markiert das Ende ihrer Lehrertätigkeit und die Konzentration auf das neue Berufsfeld in der Politik: Wieczorek-Zeul wird zur Bundesvorsitzenden der SPD-Nachwuchsorganisation Jungsozialisten gewählt, von 1979 bis 1987 ist sie Mitglied des Europäischen Parlaments im Außenwirtschaftsausschuss, u.a. mit dem Schwerpunkt europäische Entwicklungspolitik. 1987 wird sie Mitglied des Deutschen Bundestages und Europapolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, im Jahr darauf Bezirksvorsitzende der südhessischen SPD und von 1993 bis 2005 stellvertretende Vorsitzende der Bundes-SPD.

Welche Bedeutung hatte Ihre Studienzeit für Sie aus heutiger Sicht?
Vor allem anderen hat mich diese Zeit natürlich fit gemacht für meinen Beruf als Lehrerin, den ich dann ja auch fast 10 Jahre ausgeübt habe. Aber ein Studium ist viel mehr als berufliche Qualifizierung. Meine Studienzeit hat ganz erheblich zur Entwicklung meines politischen Bewusstseins beigetragen. Ich denke dabei besonders an Prof. Thomas Ellwein. Er war mein Professor für politische Bildung in den Erziehungswissenschaften. Und er verstand es, in uns das Interesse an Politik zu wecken. Vergessen Sie nicht: Als ich studierte, spielte die Studentenbewegung noch keine Rolle und der SDS war ein relativ braver Verein.

Welches Ereignis Ihrer Studienzeit ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?
Das kann ich Ihnen ganz eindeutig beantworten: Es ist das Kolloquium, das der damalige hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer zusammen mit Prof. Berthold Simonson zur Frage der Auschwitzprozesse durchführte. Fritz Bauer hat ja maßgeblich dazu beigetragen, dass die Auschwitzprozesse in Frankfurt stattgefunden haben. Und Berthold Simonson war der einzige Überlebende von Theresienstadt und Auschwitz, der an die Universität Frankfurt berufen wurde. Dieses Kolloquium werde ich nie vergessen. Und es ist eine der Wurzeln für mein Engagement gegen Faschismus und Rechtsextremismus.

Was war Ihre liebste Freizeitbeschäftigung während des Studiums?
Für Freizeit war damals wenig Zeit. Meine Eltern waren früh gestorben. Und wenn das Studium mir ein wenig Zeit ließ, kümmerte ich mich in der ehemaligen Gärtnerei meiner Eltern um rund 200 Pfirsichbäume, die gepflegt werden mussten. Früchte pflücken, Bäume schneiden, das war oft genug die Freizeit, die ich damals hatte.

Wo trafen Sie sich mit Ihren KommilitonInnen außerhalb der Universitäts-Veranstaltungen?
Um ehrlich zu sein: Das erinnere ich kaum noch. Aber ich muss die Zeit ganz gut genutzt haben. Denn ich habe ja während dieser Zeit meinen späteren Mann in Frankfurt kennengelernt.

Wo wohnten Sie während Ihres Studiums? Wenn es eine WG war – mit wem lebten Sie zusammen?
Ich lebte damals gemeinsam mit meiner Schwester in der früheren Wohnung meiner Eltern in Seckbach.

Was war Ihr wichtigster akademischer oder beruflicher Erfolg?
Ich hatte mich schon früh gegen den Weg in die Wissenschaft entschieden, wollte praktisch tätig sein. Mit dem Examen war deshalb der akademische Weg für mich beendet. Und das war keine schlechte Wahl, denn meine Arbeit als Lehrerin und später als Politikerin hat mir immer viel Freude bereitet und tut es noch heute. Dass ich nunmehr seit 1998 das Bundesentwicklungsministerium leiten darf, ist sicherlich der größte berufliche Erfolg. Ich sage immer wieder – und nicht nur im Scherz: Das Entwicklungsministerium ist das schönste Ministerium, das es in der Bundesregierung gibt.

Welche Eigenschaften sollten Hochschullehrer beziehungsweise Studierende mitbringen?
Vor Verallgemeinerungen darf man, glaube ich, hier wie so oft im Leben warnen. Jede und jeder muss die eigenen Stärken nutzen und den eigenen Weg finden. Das gilt für Studierende genauso wie für Hochschullehrerinnen und -lehrer. Aber ich muss schon sagen, dass mich der schon erwähnte Professor Ellwein sehr beeindruckt hat. Er war motivierend, hoch engagiert und dabei immer verständlich. Sicher kein schlechtes Vorbild. Studierende sollten vor allem Neugier und einen wachen und unabhängigen Kopf mitbringen.

Was würden Sie heutigen Studierenden raten, um beruflich erfolgreich zu sein?
Alles was wir über die Globalisierung wissen, lässt nur einen Schluss zu: Interessieren sie sich für andere Kulturen und internationale Prozesse! Und dieser Rat entspringt nicht nur meiner eigenen Erfahrung. Andere Kulturen und Sprachen werden immer wichtiger und sie bereichern das eigene Leben ein Leben lang. Wir führen zur Zeit gerade einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst für junge Erwachsene ein, der auch in diese Richtung zielt.

Wie sieht für Sie die Universität der Zukunft aus?
Sie sollte immer mehr zu einem Ort globalen Lernens werden. Vernetzt mit Hochschulen in aller Welt – übrigens auch in Afrika! Unser Horizont ist immer noch sehr stark auf Deutschland und Europa begrenzt.

Wenn Sie einen anderen Beruf gewählt hätten – wofür hätten Sie sich entschieden?
Ich habe in meinem Leben zwei sehr unterschiedliche Berufe ausgeübt: Lehrerin und Politikerin. Beide Berufe finde ich sehr erfüllend. Andere Möglichkeiten haben sich nie ergeben. Ich habe sie auch nie vermisst.

Wie lautet heute ihr Wahlspruch oder Arbeitsmotto?
Meinen Schülerinnen und Schülern habe ich früher immer mit auf den Weg gegeben: „Der Kopf ist nicht zum Nicken, sondern zum Denken da.“ Das beherzige ich auch selbst. Und ansonsten: „Ubuntu“ praktizieren. Das ist der afrikanische Begriff für „Solidarität“ – und meint: „I am because you are.“