Forschung Anatomie I

Arbeitsgruppe Prof. Thomas Deller

Nervenzellen sind dazu in der Lage, ihre Struktur und Funktion an unterschiedliche neuronale Aktivität anzupassen. Diese Fähigkeit zur Anpassung wird unter dem Begriff "neuronale Plastizität" zusammengefasst und gilt als zelluläre Grundlage von "Lernen und Gedächtnis". Neuronale Plastizität ist somit die entscheidende Eigenschaft des Nervensystems, die es einem Organismus erlaubt, sich an die Umwelt anzupassen.

Auch im Fall einer Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS) ist die neuronale Plastizität von großer Bedeutung. So können überlebende Nervenzellen ihre Verbindungen verändern, um einen Teil der schädigungsbedingten Ausfälle zu kompensieren. Auch wenn die Fähigkeit des Gehirns zur "Selbstheilung" sehr begrenzt ist und von der Größe der Schädigung und dem Alter abhängt, versucht man diese Kompensationsmechanismen im Rahmen der neurologischen Rehabilitation gezielt zu stärken. Neurologische Restfunktionen werden "geübt" und damit die neuronale Reorganisation des geschädigten Gehirns unterstützt. Patienten können auf diese Weise neue Bewegungsmuster "erlernen" und Funktionsverluste teilweise ausgleichen.

Die Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit den molekularen Grundlagen neuronaler Plastizität von Nervenzellen im ZNS unter physiologischen (Lernen) und pathologischen (Schädigungen, Modelle von neurologischen Krankheiten) Bedingungen. Die zeitlichen Abläufe (Dynamik) der neuronalen Plastizität werden an lebenden Nervenzellen mit Hilfe spezieller Mikroskope (konfokales Mikroskop, Multiphotonen-Mikroskop) untersucht und ihre molekulare Regulation aufgeklärt. Die Untersuchungen werden überwiegend am Hippocampus durchgeführt, einer Hirnregion, die für Lern- und Gedächtnisprozesse von großer Bedeutung ist. Die Arbeitsgruppe setzt eine breite Palette an morphologischen (Immunfärbung, Tracing, 3D-Rekonstruktionen von Nervenzellen, konfokale Mikroskopie, Multiphotonen-Mikroskopie), zell- und molekularbiologischen (organotypische Schnittkulturen, RNAi, virale Transduktion, in situ Hybridisierung, FISH) und neurophysiologischen (LTP, extrazelluläre Ableitungen) Techniken im Rahmen ihrer Untersuchungen ein.

Zentrale wissenschaftliche Fragen der Arbeitsgruppe sind:


1. Wie lernen Nervenzellen? Welche Formen von Plastizität spielen dabei eine Rolle?

Welche strukturellen Veränderungen treten bei unterschiedlichen Aktivitätszuständen von Nervenzellen auf? Welche Moleküle regulieren diese Prozesse? Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang intrazelluläre Kalzium-Speicher? Welche Rolle spielen dabei verschiedene Formen der Plastizität (homöostatische Plastizität, Hebb'sche Plastizität, Metaplastizität)? Wie lässt sich Plastizität im Zentralnervensystem auslösen (Magnetstimulation)?

Deller T*, Korte M*, Chabanis S*, Drakew A, Schwegler H, Stefani GG, Zuniga A, Schwarz K, Bonhoeffer T, Zeller R, Frotscher M*, Mundel P* (2003) Synaptopodin-deficient mice lack a spine apparatus and show deficits in synaptic plasticity. Proc Natl Acad Sci USA 100:10494-10499

Vlachos A*, Korkotian E*, Schonfeld E, Copanaki E, Deller T, Segal M (2009) Synaptopodin regulates plasticity of dendritic spines in hippocampal neurons. J Neurosci 29:1017-1033

Vlachos A*, Mueller-Dahlhaus F*, Rosskopp J, Lenz M, Ziemann U*, Deller T* (2012) Repetitive magnetic stimulation induces functional and structural plasticity of excitatory postsynapses in mouse organotypic hippocampal slice cultures. J Neurosci 48: 17514-17523


2. Wie wird das Gehirn nach einer Schädigung reorganisiert?

Welche Reorganisationsprozesse des Gehirns finden nach einer Deafferenzierung statt (strukturelle und funktionelle Veränderungen, Neurogenese)? Welche Bedeutung hat die Reorganisation von Axonen (Axonsprossung) und Dendriten für die Funktion? Welche Bedeutung haben funktionelle Veränderungen für die strukturelle Reorganisation und umgekehrt? Kann therapeutisch eingegriffen werden (Neuroprotektion, Neuroregeneration)?

Deller T, Frotscher M (1997) Lesion-induced plasticity of central neurons: Sprouting of single fibers in the rat hippocampus after unilateral entorhinal lesion. Progr Neurobiol53:687-727

Vlachos A, Helias M, Becker D, Diesmann M, Deller T (2013) NMDA-receptor inhibition increases spine stability of denervated mouse dentate granule cells and accelerates spine density recovery following entorhinal denervation in vitro. Neurobiol Dis 59:267-76

Vlachos A, Ikenberg B, Lenz M, Becker D, Reifenberg K, Bas-Orth C, Deller T (2013) Synaptopodin regulates denervation-induced homeostatic synaptic plasticity. Proc Natl Acad Sci U S A 110:8242-8247


3. Welche Rolle spielen diese Vorgänge im Rahmen neurologischer Krankheiten?

Kommt es zur Reorganisation des Gehirns bei neurologischen Krankheiten (Krankheitsmodelle; Krankheiten des Menschen)? Welche funktionelle Bedeutung haben diese Prozesse bei Mb. Parkinson, Heredoataxien, Mb. Alzheimer? Können neuroprotektive und neuroregenerative Strategien (siehe 2.) zur Therapie genutzt werden?

Valente EM, Abou-Sleiman PM, Caputo V, Muqit MMK, Harvey K, Gispert S, Ali Z, Del Turco D, Bentivoglio AR, Healy DG, Albanese A, Nussbaum R, González-Maldonado R, Deller T, Salvi S, Cortelli P, Gilks WP, Latchman DS, Harvey RJ, Dallapiccola B, Auburger G, Wood NW (2004) Hereditary early-onset Parkinson's disease caused by mutations in PINK1. Science 304:1158-1160.

Custer SK, Garden GA, Gill N, Rüb U, Libby RT, Schultz C, Guyenet SJ, Deller T, Westrum LE, Sopher BL, La Spada AR (2006) Bergmann glia expression of polyglutamine-expanded ataxin-7 produces Purkinje cell degeneration in SCA7 by impairing glial glutamate transport. Nature Neuroscience 9:1302-1311

Schwarzacher SW*, Rüb U*, Deller T (2011) Neuroanatomical characteristics of the human pre-Bötzinger complex and its different involvement in neurodegenerative brainstem diseases. Brain 134:24-35

Rüb U, Schöls L, Paulson H, Auburger G, Kermer P, Jen JC, Seidel K, Korf HW, Deller T (2013) Clinical features, neurogenetics and neuropathology of the polyglutamine spinocerebellar ataxias type 1, 2, 3, 6 and 7. Prog Neurobiol 104: 38-66


Die Forschungsarbeiten werden gefördert durch

  • DFG (SFB1080, TPB3, Deller; JE528/6-1, Jedlicka; DE 551/13-1, Deller; DE274/1-1, Del Turco; SCHW 534/6-1 Schwarzacher)
  • BMBF "OGEAM" (Deller)
  • IMPRS Neural Circuits
  • August Scheidel Stiftung (Radic)
  • Alexander von Humboldt Stiftung, Georg-Forster Forschungsstipendium (Zepeda)
  • Fachbereich Medizin Nachwuchsforscherprogramm (Jungenitz)

Arbeitsgruppe Prof. Leo Peichl

Vergleichende Netzhautforschung

Die Retina (Netzhaut) des Auges ist die Eingangsstation des Sehsystems. Die Retinae aller Säugetiere haben einen gemeinsamen Grundbauplan. Diesem überlagert sind allerdings deutliche artspezifische Unterschiede, die durch evolutionäre Anpassung an unterschiedliche visuelle Erfordernisse entstanden. Unsere vergleichenden Untersuchungen an Säugetieren mit verschiedenen Lebensweisen zielen darauf, (i) Gemeinsamkeiten zu identifizieren, die auf konservierte und damit für alle Arten wichtige Eigenschaften der retinalen Bildverarbeitung hinweisen, und (ii) Spezialisierungen und ihre potentiellen Vorteile für die jeweilige Art zu analysieren. Unsere Ergebnisse tragen zur Beantwortung der grundsätzlichen Frage bei, wie flexibel der Bauplan der Säuger-Retina bei der Reaktion auf evolutionären Druck ist.

Der gegenwärtige Schwerpunkt unserer Forschung liegt auf den Photorezeptoren (Lichtsinneszellen). Alle Säugetiere besitzen zwei Klassen von Photorezeptoren: Zapfen für das Sehen bei Tageslicht und das Farbensehen, sowie Stäbchen für das Dämmerungs- und Nachtsehen. Als Anpassung haben nachtaktive Säuger sehr viele Stäbchen und nur einen geringen Zapfenanteil, während tagaktive Säuger weniger Stäbchen und einen höheren Zapfenanteil haben. Zum Farbensehen werden mehrere Zapfentypen mit unterschiedlicher spektraler Empfindlichkeit benötigt. Die spektrale Empfindlichkeit wird durch das jeweilige Sehpigment (Opsin) bestimmt, das ein Zapfen enthält. Wir Menschen und die anderen Altwelt-Primaten haben drei spektrale Zapfentypen (Blau-, Grün- und Rotzapfen), die uns „trichromatisches“ Farbensehen ermöglichen, während die meisten anderen Säuger nur zwei spektrale Zapfentypen (im allgemeinen Grün- und Blauzapfen) und damit ein reduziertes, „dichromatisches“ Farbensehen besitzen. Dies gilt auch für die meisten nachtaktiven Säuger. Bei einigen Säugetierarten konnten wir nachweisen, dass ihnen die Blauzapfen fehlen und sie damit farbenblind sind. Dazu gehören z.B. die Wale und Robben. Bei anderen Säugetieren (z.B. Fledermäusen und einigen Nagern) konnten wir zeigen, dass sie ein ultraviolett-empfindliches statt blau-empfindliches Zapfen-Opsin haben. Bei Vögeln fanden wir in den UV-empfindlichen Zapfen eine lichtaktivierte Form des Moleküls Cryptochrom 1a, der eine wichtige Rolle für die Orientierung und Navigation im Erdmagnetfeld zugeschrieben wird. Das homologe Säugetier-Molekül Cryptochrom 1 fanden wir in den Blauzapfen hundeartiger Carnivoren und einiger Primaten. Wir untersuchen die Photorezeptor-Eigenschaften weiterer Säugetiere mit ungewöhnlichen Lebensweisen und Lebensräumen.