Vortrag Prof. Dr. Christian Wiese

Jüdische Lutherlektüren im 19. und 20. Jahrhundert: Eine tragische Liebesgeschichte

Mittwoch, 9. Dezember 2015, Bibelhaus Erlebnismuseum, Metzlerstraße 19, 60594 Frankfurt, 18 Uhr 
Seit der Aufklärung lässt sich in der jüdischen Geschichtsschreibung und Philosophie ein auffälliges Phänomen feststellen: ein reges Interesse jüdischer Intellektueller an Werk und Wirkung Martin Luthers. Diese moderne jüdische Lutherrezeption, die sich im Zeitalter der Emanzipation der jüdischen Minderheit in Deutschland und ihrer kulturellen Integration vollzog, weist zwei gegenläufige Motive auf: Neben einer Linie kräftiger Polemik gegen Luther und die Reformation, die sich von Ludwig Börne bis zu Leo Baeck zieht, bildet sich von Heinrich Heine bis Hermann Cohen eine auffällig positive Interpretation des Denkens Luthers heraus, die ihn als Vorläufer von Aufklärung, Toleranz und Gewissensfreiheit versteht und als Brücke zwischen deutscher und jüdischer Kultur in Anspruch nimmt. Der Vortrag untersucht und interpretiert diesen Befund im historischen Kontext jüdischer Geschichte in Deutschland von der Aufklärung bis zur Nazi-Zeit. Dabei kommen auch jüdische Reaktionen auf die antijüdischen Schriften Luthers zur Sprache - ihr verzweifelt-beschwörender Versuch, den jungen Luther für eine Tradition von Toleranz in Anspruch zu nehmen und der antisemitischen Lutherdeutung der Zeit etwas Substantielles entgegenzuhalten.