Literatur als Obsession. Don Quijotes Leidensgenossen in den romanischen Literaturen

Tagung, 13.-14.9.2016

 

Institut für Romanische Sprachen und Literaturen
Tagungsort an beiden Tagen: Seminarhaus – Raum SH 3.104 (entspricht Nr 19 auf dem Plan des Campus Westend)
Organisation: Tobias Berneiser, Frank Estelmann
Öffentliche Veranstaltung: alle Interessierten sind herzlich eingeladen!

Programm als pdf

Gefördert von der Vereinigung der Freunde und Förderer und vom Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Universität Frankfurt und der Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Johann Wolfgang Goethe-Universität.

  

Projektbeschreibung:

Von einem obsessiven Verhältnis zu Literatur kann einerseits gesprochen werden, wenn das Lektüreverhalten von Lesern wahnhafte Züge annimmt (rezeptionstheoretische Dimension), und andererseits wenn jene Lektüren sie in einen Zustand überführen, der als eine Form von Wahnsinn aufzufassen ist (wirkungsästhetische Dimension). Als das prominenteste literarische „Opfer“ einer derartigen pragmatischen Literaturrezeption lässt sich Cervantes’ Protagonist Don Quijote einstufen: im Ingenioso hidalgo de la Mancha ist nicht nur ein obsessiver Leser zu sehen, dessen Romanlektüren ihn als Alonso Quijano Tag und Nacht in ihren Bann zogen, sondern auch die Konsequenzen seines Rezeptionsverhaltens ermöglichen es, von einer literarischen Obsession zu sprechen, da sein Handeln als Don Quijote von seinen vorausgegangenen Lektüren bestimmt wird, sodass der zu einer Trennung von Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr fähige Protagonist seine Lebenswirklichkeit fiktionalisiert bzw. sich seine Welt „erliest“. Hat das imaginaire der Literatur auf den Leser so sehr eingewirkt, dass er sich von den seiner Imaginationskraft entsprungenen und mit Fiktionen gleichzusetzenden Wahnvorstellungen leiten lässt, so hat sich der Rezipient von Fiktionen letztlich zum Produzenten von Fiktionen entwickelt.
 Eine Beschäftigung mit „Literatur als Obsession“ ermöglicht neben den bereits angedeuteten rezeptions- bzw. wirkungsästhetischen sowie fiktionstheoretischen Ansätzen vielfältige (auch miteinander kombinierbare) Herangehensweisen. Unter literarhistorischen Gesichtspunkten lässt sich ein breites Spektrum an einen durch Literatur (oder auch Kunst) ausgelösten Wahnsinn in den Vordergrund stellenden Texten untersuchen: Innerhalb der Romania können hierfür die ersten – speziell in Frankreich und Italien entstehenden –  Nachahmungen und Adaptationen des cervantinischen Romans im 17. und 18. Jahrhundert (z.B. Sorel, Marivaux), die ab Mitte des 19. Jahrhunderts den gesamteuropäischen Roman beeinflussende und nach Flauberts Protagonistin benannte Ausprägung jener Obsession als „Bovarysme“, die Verarbeitung eines obsessiven Verhältnisses zu Literatur bzw. Kunst im Kontext von Décadence bzw. Ästhetizismus sowie zahlreiche literarische Figuren des 20. Jahrhunderts, deren Verhältnis zur Literatur als Wahn bezeichnet werden kann, als Beispiele dienen. Gerade unter Berücksichtigung ihrer metaliterarischen Qualitäten – man denke an die zunehmende Thematisierung von Autoreferentialität einer mit dem Begriff der Metafiktionalität zu kennzeichnenden Literatur, für die sich exemplarisch Borges’ „Literatur-Parablen“ anführen ließen – haben literarische Obsessionen thematisierende Texte auch die besondere Aufmerksamkeit der „postmodernen“ Literatur gefunden. Ebenso bietet es sich unter intermedialen Gesichtspunkten an, die Untersuchung der „Leidensgenossen“ Don Quijotes nicht auf einen „Bücher-Wahn“ einzugrenzen, sondern auch durch Kunst im allgemeinen hervorgerufene Obsessionen sowie die Verarbeitung des quijotesken Wahnsinns im Medium Film in Betracht zu ziehen.
 Der Einfluss einer Literatur, die ihren Rezipienten in den Zustand eines Wahns überführt, wirft zudem die mit rezeptions- und wirkungsästhetischen Ansätzen zu verbindende Frage nach dem Vorgang der hierbei stattfindenden Interaktion zwischen Text und Leser auf. Wie muss ein fiktionales Werk beschaffen sein, welches den Illusions- und Identifikationsbedürfnissen eines Rezipienten derartig entgegenkommt, dass die Fiktion noch in die Wahrnehmung seiner Lebenswelt hineinwirkt? Eine theoretische Erfassung literarischer Obsession müsste hiervon ausgehend darauf zielen, eine Beschreibbarkeit der Interaktionsprozesse zwischen der Literatur und ihrem obsessiven Leser zu entwickeln.
 Wenn Literatur Zwang auf ein Subjekt ausübt und es in seinem Handeln fremddeterminiert, hat man es aber zugleich mit einem pathologischen Fall zu tun: Don Quijotes Wahn entspricht genauso wie das von Vila-Matas in seinem gleichnamigen Roman behandelte „mal de Montano“ einer „Literatur-Krankheit“. Im Rekurs auf psychologische und psychoanalytische Diskurse bietet sich auch eine Untersuchung anderer vom Literaturwahn befallener literarischer Figuren an, um einen Beitrag zur Pathologie der „Literatur-Krankheit“ zu leisten.
 Von einer literarischen Obsession lässt sich auch im Falle eines Subjekts sprechen, dessen Selbstzeugnisse nicht ohne Bezüge zu seinen Lektüren auskommen und das somit auf eine an Don Quijote erinnernde Weise eine Fiktionalisierung des von ihm Erlebten verfolgt. Insofern können sich autobiographische Texte, die sich durch einen hohen Grad an Intertextualität auszeichnen, genauso wie jene unter dem neueren Begriff der „Autofiktion“ erfassten Texte als Untersuchungsgegenstand für die Selbstdarstellung „Literatur-Wahnsinniger“ erweisen. Im erweiterten Sinne lassen sich in diesem Kontext auch Obsessionspathologien in Betracht ziehen, bei denen die eigene Subjektivität gegenüber der Literatur so weit zurückgedrängt wird, dass das Ich sich ausschließlich über Literatur wahrnimmt oder gar – wofür sich exemplarisch die Heteronymie Pessoas anführen ließe – seine Identität in zusätzliche fiktive Identitäten aufspaltet.