Prof. Dr. Ina Maria Greverus 1929 – 2017

Am 11. April 2017 verstarb Prof. Dr. em. Ina-Maria Greverus im Alter von 87 Jahren in Frankfurt am Main. Ina-Maria Greverus war 1974 auf den Lehrstuhl für Volkskunde an der Goethe-Universität berufen worden. Die gebürtige Zwickauerin hatte an den Universitäten Marburg und Uppsala Volkskunde, Germanistik, Skandinavistik, Kunstgeschichte und Anglistik studiert und promovierte 1956 in Marburg. Ihre literaturanthropologische Habilitation an der Universität Gießen kündigte bereits 1970 die von ihr vorangetriebene, konsequente Öffnung der Volkskunde für grundlegende anthropologische Fragestellungen an, die sie lebenslang in zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigen sollte – zuletzt in der 2009 veröffentlichten Monographie „Über die Poesie und die Prosa der Räume“. Weitere wichtige Bücher von Ina-Maria Greverus sind u.a. „Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie“ (1978), „Neues Zeitalter oder Verkehrte Welt. Anthropologie als Kritik“ (1990), „Die Anderen und ich“ (1995), „Anthropologisch reisen“ (2002) und „Ästhetische Orte und Zeichen. Wege zu einer ästhetischen Anthropologie“ (2005). Die von ihr gegründete Veröffentlichungsreihe „Kulturanthropologie Notizen“ umfasst heute 82 Bände. Bereits 1990 initiierte sie außerdem mit einem internationalen Herausgeber­gremium die englischsprachige Zeitschrift Anthropological Journal on European Cultures, die mittlerweile als Anthropological Yearbook of European Cultures weitergeführt wird.

Den heutigen Namen „Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie“ verdankt das Institut an der Goethe-Universität Frankfurt am Main der durch Ina-Maria Greverus vollzogenen Umbenennung. In ihr war bereits in den sechziger Jahren die Überzeugung gereift, dass die Volkskunde sich internationalen Fachentwicklungen der Social and Cultural Anthropology zuwenden sollte. So war Greverus zweifellos eine der prägenden Persönlichkeiten im Modernisierungsprozess der Volkskunde. Ihre Entscheidung für die Orientierung an einer gesellschaftsvergleichenden, gegenwartsbezogenen Kultur­anthro­pologie war aber in den siebziger Jahren im Fach Volkskunde in Deutschland keineswegs mehrheitsfähig und wurde kritisch aufgenommen. Die Zeit hat Ina-Maria Greverus freilich recht gegeben: der Begriff „Europäische Ethnologie“ dominiert heute als Bezeichnung an den meisten Standorten des Faches und nicht wenige Institute tragen mittlerweile auch „Kulturanthropologie“ im Namen.

Zahlreiche Feldforschungen zu Themen der Regionalentwicklung, Migration, Stadtkultur, sozialen Bewegungen sowie expressiver Kultur und ästhetischer Vermittlung führten Ina-Maria Greverus im Lauf der Jahrzehnte u.a. nach Italien, Schweden, in die Niederlande, die Schweiz, in die Vereinigten Staaten, nach Zentralamerika, Haiti, China, Korea, in die Mongolei, in den pazifischen Raum und vor allem auch nach Australien und Indonesien. Ihr besonderes Interesse galt der anthropologischen Theorienentwicklung, dem kulturkritischen Potential der Ethnographie und dem Grenzverkehr zwischen Kunst und Wissenschaft.

Schülerinnen und Schüler sowie Fachkolleginnen und -kollegen im In- und Ausland trauern um eine kreative, streitbare, bisweilen unbequeme Wissenschaftlerin, von deren sprühendem Ideenreichtum und zukunftsweisenden Ansätzen wir noch heute profitieren.