Norbert Wollheim Memorial


Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit.“ (Norbert Wollheim, August 1945)

Dieser Satz steht in großen Lettern an der Innenwand des ehemaligen Pförtnerhäuschens am Fritz-Neumark-Weg, das zusammen mit historischen Fotografien auf 13 Aluminiumtafeln das Norbert Wollheim Memorial auf dem Campus Westend bildet. Stellvertretend für das Leiden der Menschen im KZ Buna/Monowitz (Auschwitz III) ist das im November 2008 eröffnete Memorial diesem Kämpfer für das Recht der Überlebenden auf Entschädigung gewidmet. Am Ort der damaligen Hauptverwaltung des Chemiekonzerns verweist es auf diesen kräftezehrenden und bis heute andauernden Kampf und erinnert zugleich an die Verbrechen, an denen die IG-Farben Industrie beteiligt war – und vor allem an die im KZ Buna/Monowitz ermordeten Menschen aus fast allen europäischen Ländern.

Zur Person Norbert Wollheim

Norbert Wollheim wurde 1913 in Berlin geboren. Nach dem Abitur im Jahre 1931 wollte er Jura studieren, doch die seit 1933 erlassenen nationalsozialistischen Gesetze zur Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Bürger verhinderten dies. Ab 1935 begann Wollheim daher in einer Firma für Eisen- und Manganerzhandel zu arbeiten. Nach den Pogromen im November 1938 wirkte er bei der Organisation von „Kindertransporten“ mit, durch die jüdische Kinder nach Großbritannien gebracht wurden und so der nationalsozialistischen Verfolgung entkamen.

Als sich die Lage mit Ausbruch des Krieges verschärfte, ließ sich Wollheim zum Schweißer ausbilden. In dieser Position war er als kriegswichtiger Arbeiter mit seiner Familie noch eine Zeitlang sicher vor Übergriffen, doch wurden sie 1943 im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“ verhaftet und in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert.

Wollheims Frau und sein Sohn wurden kurz nach der Ankunft im Lager in der Gaskammer ermordet; er selbst wurde ins Konzentrationslager Buna/Monowitz gebracht. In diesem Außenlager des Lagers Auschwitz wurden Häftlinge solange als Zwangsarbeiter eingesetzt, bis sie durch die schlechten Lebensbedingungen zu entkräftet waren, um zu arbeiten; sie starben oder wurden ermordet. Das Lager gehörte der „Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG“ (I.G. Farben), die hier eine chemische Fabrikationsstätte unterhielt, um Buna (synthetischen Kautschuk) herzustellen. Die Häftlinge wurden von der SS gegen einen Preis von vier bis sechs Reichsmark pro Tag als Sklavenarbeiter vermietet.

Betriebe der I.G. Farben produzierten an anderen Standorten auch die Fleckfieber-Impfstoffe, mit denen Versuche an Häftlingen in Konzentrationslagern, insbesondere in Buchenwald, durchgeführt wurden. Die I.G. Farben waren auch an der Firma Degesch beteiligt, welche das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B (Blausäure) herstellte, das insbesondere in Auschwitz zur massenhaften industrialisierten Tötung der KZ-Häftlinge eingesetzt wurde.

Kurz vor der Ankunft der roten Armee wurden tausende Häftlinge aus Buna/Monowitz 1945 auf die sogenannten „Todesmärsche“ getrieben. Wollheim konnte mit einigen Mithäftlingen fliehen und wurde schließlich von amerikanischen Soldaten gerettet. Obwohl er eigentlich nicht lange in Deutschland verweilen wollte, wurde Wollheim nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Person beim Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Norddeutschland. Er ließ sich in Lübeck nieder, setzte sich in der britischen Besatzungszone für jüdische „displaced persons“ ein und sagte als wichtiger Zeuge in mehreren Verhandlungen gegen die I.G. Farben aus, etwa vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg.

Vertreten durch seinen deutsch-jüdischen Anwalt Henry Ormond, der selbst 1938/39 im KZ Dachau inhaftiert war, bevor er nach England emigrierte und nach Kriegsende als britischer Besatzungsoffizier nach Deutschland zurückkehrte, verklagte Wollheim die I.G. Farben 1951 auf Schadensersatz. Am 10. Juni 1953 wurde ihm in allen Punkten Recht gegeben und eine Entschädigung von 10.000 DM zugesprochen. Im darauffolgenden Berufungsverfahren kam es zu einer außergerichtlichen Einigung: Die I.G. Farben verpflichtete sich gegenüber Norbert Wollheim sowie der Jewish Claims Conference (Conference on Jewish Material Claims Against Germany), dem Dachverband der wichtigsten jüdischen Organisationen, zur Zahlung von insgesamt 30 Millionen DM an überlebende Zwangsarbeiter des Lagers Buna/Monowitz und der Nebenlager Fürstengrube und Janinagrube. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieses Musterprozesses beschloss der Deutsche Bundestag im Juli 1953 das erste Entschädigungsgesetz (erneuert im Juni 1956), um die Frage der Entschädigung rechtlich zu regeln. Norbert Wollheim emigrierte bereits 1951 in die Vereinigten Staaten und starb 1998 in New York.

Lage und Aufbau des Memorials

Die von dem Künstler Heiner Blum gestaltete Gedenkstätte besteht aus einer Reihe von Tafeln mit Fotografien sowie einem Pavillon mit einer Video-Installation. Der Ort der Gedenkstätte ist mit Bedacht gewählt: Schließlich war das durch den Architekten Hans Poelzig im Auftrag der I.G. Farben errichtete Bürogebäude der Hauptsitz jenes gesamtdeutschen Zusammenschlusses wichtiger chemischer Unternehmen, der maßgeblich in die Kriegsindustrie der Nazis verstrickt war. Das Memorial erinnert an die Opfer der unter Beteiligung deutscher Wirtschaftsunternehmen begangenen nationalsozialistischen Verbrechen. Es betont zugleich die Verantwortung der scheinbar Unbeteiligten in den Verwaltungen und Amtsstuben – und daran sollte bewusst auf dem Campus Westend der Goethe-Universität erinnert werden.

Die Fotografien, die auf dem Gelände vor dem I.G. Farben-Gebäude den Weg zum Pavillon weisen, zeigen einige der in Buna/Monowitz Inhaftierten vor ihrer Verfolgung bzw. Internierung und illustrieren damit das jüdische Alltagsleben vor dem Holocaust. Der Kontrast zwischen Alltag und Zerstörung wird auch durch die in roter Farbe aufgebrachten Häftlingsnummern der jeweils Abgebildeten verstärkt. Um die Orientierung zu erleichtern, sind die Positionen der Fototafeln im Gelände mit Kleinbuchstaben auf der Karte des Gedenk-Plans eingezeichnet, wobei die Namen der jeweils Abgebildeten der Legende entnommen werden können. Nähere Informationen zu den Fototafeln sowie die Biografien aller Abgebildeten sind auf der Webseite des Memorials abrufbar.

Über dem Pavillon selbst sind ebenfalls Ziffern zu sehen: Es ist die Häftlingsnummer Wollheims in Buna/Monowitz. Im Innern des Pavillons zeigt ein Videobildschirm insgesamt 24 Zeitzeugeninterviews, die mit Überlebenden aus Buna/Monowitz geführt wurden und ihr Schicksal dokumentieren. Eine Webseite informiert über zahlreiche weitere Details rund um Norbert Wollheim und das Memorial: www.wollheim-memorial.de. Sie wurde eingerichtet und wird betrieben durch die Goethe-Universität und das Fritz-Bauer-Institut.

Der Norbert-Wollheim-Platz

Der Bau eines Denkmals auf einem Universitäts-Campus ist eine symbolträchtige Entscheidung. Im Fall des Wollheim-Memorials wurde sie im Jahr 2007 nach einer langen Debatte getroffen, an der sich Überlebende der Shoah, eine studentische Initiative, das Universitätspräsidium und einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beteiligten. Im Juni des Jahres 2014 stimmte der Senat der Universität zudem dafür, im Rahmen eines neuen Wegeplans und einer umfassenden Umbenennung der Straßen und Plätze des Campus Westend das Gedenken an Norbert Wollheim weitergehend zu ehren und den zentralen Platz vor dem I.G. Farben-Gebäude nach ihm zu benennen. Auch dieser Entscheidung war das Engagement von Überlebenden der Shoah vorausgegangen. Neben Karl Brozik von der Jewish Claims Conference, der den Wunsch nach einem Norbert-Wollheim-Platz bereits 2001 äußerte, unterstützten insbesondere Trude Simonsohn, Arno Lustiger, das Komitee der Überlebenden von Buna-Monowitz sowie das Fritz Bauer Institut und eine studentische Initiative seit 2004 gemeinsam die Umbenennung, die zehn Jahre später realisiert wurde. Der Norbert-Wollheim-Platz ist heute die Besucheranschrift der Geisteswissenschaften an der Goethe-Universität. Diese Würdigung ist eine sichtbare Erinnerung nicht nur an Norbert Wollheim und seinen Kampf um Entschädigung, sondern auch an die Verbrechen, an denen die I.G. Farbenindustrie beteiligt war – und vor allem an die im KZ Buna/Monowitz ermordeten Menschen aus fast allen Ländern Europas.

Die Förderer des Wollheim Memorials

Die Errichtung des Memorials 2008 wurde gefördert durch (in alphabetischer Reihenfolge): Auschwitz Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.; Familie von Bethmann, Frankfurt am Main; B’nai B’rith Frankfurt Schönstädt Loge; Conference on Jewish Material Claims Against Germany; Deutsche Lufthansa AG; Diesenhaus Ram Reisebüro, Frankfurt am Main; Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung zu Lich; Evonik Degussa GmbH, Essen; Stadt Frankfurt am Main, Dezernat für Kultur und Wissenschaft; Fraport AG; Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.; Gemeinnützige Hertie-Stiftung; Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung, Goethe-Universität Frankfurt am Main; Graviertechnik Michael Splittorf, Oberhausen; Helaba Landesbank Hessen-Thüringen; Hessische Kultur Stiftung; Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst; IG Metall; Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main; Klein & Coll., Griesheim; Johnny Klinke, Tigerpalast, Frankfurt am Main; Heinrich von Mettenheim, Frankfurt am Main; Jochen Müller, Reichelsheim; Samsung Electronics GmbH; satis&fy AG; Ernst Schmid, HiFi-Profis, Frankfurt am Main; Harry Schnabel, Frankfurt am Main; Familie Jacky Schultz, Frankfurt am Main; Sparkassen-Finanzgruppe Hessen-Thüringen; Stiftung Citoyen – aktiv für Bürgersinn; Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft; Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main; sowie durch weitere Institutionen und private Spender.

In den Jahren 2016/17 wurde die Gedenkstätte im Auftrag des Präsidiums und unter Federführung des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften umfassend restauriert. Die Instandsetzung des Memorials wurde gefördert durch (in alphabetischer Reihenfolge): Förderverein Fritz Bauer Institut e.V.; Hoechst GmbH; Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie.

© Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften


Fototafeln der Wollheim-Gedenkstätte

a -  Jürgen Löwenstein (Deutsch | Englisch

b - Max Kimmelstiel (Deutsch | Englisch) und Albert Kimmelstiel (Deutsch | Englisch)  mit Eltern Fritz und Karoline Kimmelstiel

c - Henryk Frank (Deutsch | Englisch) und Schwester Nusha

d - Fritz Löhner-Beda (Deutsch | Englisch) mit Ehefrau Helene Löhner und Schwiegervater Jakob Jellinek

e - Aleksandar Ribner (Deutsch | Englisch) und Ehefrau Jelena Ribner

f - Victor ‚Young‘ Perez (Deutsch | Englisch)

g - Josef Sprung (Deutsch | Englisch) und Cousin Sylver Henvenberg

h - Idar Paltiel (Deutsch | Englisch) und Julius Paltiel (Deutsch | Englisch)

i - Alexander Feingold (Deutsch | Englisch) und seine Brüder Joseph und Henryk

j - Norbert Wollheim (Deutsch | Englisch)

k - Ernst Frankenthal (Deutsch | Englisch) und Hans Frankenthal (Deutsch | Englisch)

l - Peter Wolff (Deutsch | Englisch) mit Mutter Helene Borger und Schwester Anita

m - Marcel Ginzig (Deutsch | Englisch)


Literatur und Links:

  • Foto: Universitätsarchiv
  • Arbeitsgruppe Wollheim-Memorial: „Ort des Gedenkens und der Information Norbert Wollheim“. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust – Informationen des Fritz Bauer Instituts, Nr. 30/ Jg. 16, 2007, 30-33.
  • Bölke, Peter: „Zwangsarbeiter: Viel Zeit bleibt nicht“. In: Der Spiegel 32/1999, 09.08.1999, 34-46.
  • Brozik, Karl: „Nachruf auf Norbert Wollheim“. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts, 16/1999, 22.
  • Dellmann, Sarah/Naumann, Matthias/Plappert, Stefanie: „Zeugnisse bewahren – Das Interviewprojekt für das Wollheim-Memorial“. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust – Informationen des Fritz Bauer Instituts, Nr. 31/Jg. 16, 2007, 28-29.
  • Diskus – Frankfurter Student_innenzeitschrift: Studieren nach Auschwitz. In Zusammenarbeit mit der Initiative Studierender am IG Farben-Campus. Nr. 1.13/2013, Jg. 52.
  • Rauschenberger, Katharina/Renz, Werner (Hrsg.): Henry Ormond – Anwalt der Opfer. Plädoyers in NS-Prozesse, Frankfurt am Main u. a. 2015.
  • Rubinich, Hans: Henry Ormond, hartnäckiger Anwalt der Holocaust-Opfer. SRF, 23. Januar 2015. [Link]
  • Rumpf, Joachim Robert: Der Fall Wollheim gegen die I.G. Farbenindustrie AG in Liquidation: die erste Musterklage eines ehemaligen Zwangsarbeiters in der Bundesrepublik Deutschland – Prozess, Politik und Presse. Frankfurt am Main u. a. 2010.
  • Homepage des Wollheim Memorials