Sorge und Erziehung unter Beobachtung. Stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen und die Formierung von Mutterschaft im Kontext des Kinderschutzes

Projektlaufzeit: 
November 2013 bis Oktober 2017

Projektleitung und -durchführung:
Dr. Marion Ott

Studentische Mitarbeiterinnen: 
Jan Albracht, Ina Hammel, Anna Hontschik, Sükran Budak

Förderung:

 


Projektbeschreibung:
Das ethnographische Forschungsprojekt ist an der Schnittstelle von sozialwissenschaftlicher Kindheits- und Geschlechterforschung mit sozialpädagogischer Institutionen- und Professionsforschung angesiedelt. Vor dem Hintergrund der verstärkten Kinderschutz- und Kinderförderpolitik, mit der elterliche Sorge- und Erziehungstätigkeiten zunehmend in das öffentliche Blickfeld gerückt werden, untersuchte es von Oktober 2013 bis November 2017 stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen der Kinder und Jugendhilfe. Diese Einrichtungen konstituieren ein Feld weitgehender pädagogischer Beobachtung und Bearbeitung der Lebensführung und der Erziehungsfähigkeit der betreuten Frauen als Mütter. Ihr programmatisches Ziel ist es, die Erziehungsfähigkeit der Betreuten zu stärken und damit das Wohl des Kindes zu sichern. Vor dem Hintergrund, dass mit dem konkretisierten Kinderschutzauftrag (§8a SGB VIII) grundlegende Veränderungen für die Einrichtungen einher gingen, fragte das Projekt wie (mütterliche) Erziehungsfähigkeit in sozialen Praktiken mit dem Kindeswohl relationiert wird. Es fokussierte die gemeinsame Arbeit der Beteiligten an der Erziehungsfähigkeit und untersuchte, wie Erziehungsverhältnisse organisiert und wie Normen mütterlicher Sorge und Erziehung konstruiert und interaktiv verhandelt werden.

Im Zentrum der Forschung stand die macht- und praxisanalytische Rekonstruktion von situierten Praktiken der Arbeit an der mütterlichen Erziehungsfähigkeit und deren Institutionalisierung. Bezüglich des Kinderschutzes erweisen sich die Einrichtungen als Orte, an denen grundlegende Konflikte um die ‚richtige‘ Umgangsweise mit dem Kind und damit verbunden die ‚gute Mutterschaft‘ ausgetragen werden, die institutionell angelegt sind. Die These, dass die Referenz auf das Kindeswohl die Betreuungspraktiken stark dynamisiert und dabei Zuschreibungen ‚riskanter Mutterschaft‘ unter Referenz auf die Figur des ‚schutzbedürftigen Kindes‘ prozessiert werden, konnte in empirischen Analysen hinsichtlich einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung differenziert werden. Die Ergebnisse wurden entlang folgender Schwerpunkte erarbeitet:

  1. Die institutionelle Konzeption und Bearbeitung von Müttern als ‚Fälle der Hilfe‘ wurde entlang der Analyse programmatischer Dokumente rekonstruiert.
  2. Praktiken der Vermittlung, Inszenierung und Darstellung von Normen guter Mutterschaft wurden mit der programmatischen und institutionellen Konzeption der Maßnahmen relationiert.
  3. Der praktische Einsatz des Kindeswohls wurde bezogen auf seine Funktionen und Effekte bei der Arbeit an der Erziehungsfähigkeit analysiert.
  4. Die Beobachtung des Erziehungsverhältnisses wurde in raumtheoretischer Hinsicht untersucht.

Die Ergebnisse zeigen, dass Mutterschaft kaum allein biologisch oder rechtlich bestimmt werden kann, sondern in komplexen Formierungsprozessen als mehr oder weniger ‚gute‘ oder ‚riskante‘ Mutterschaft hervorgebracht wird. Die Ergebnisse liefern eine differenzierte Beschreibung von Praktiken der (Re)Produktion heterogener Normen guter Mutterschaft, die als normative Anforderungen abgelehnt, jedoch zugleich in normativen Konzepten aus Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung transformierend aktualisiert werden. Die Norm(re)produktion vollzieht sich dabei weniger als Anpassung, sondern oft in reflektierten strategischen Positionierungen der betreuten Frauen zu ihrer institutionell vermittelten Kategorisierung.

Die Ergebnisse tragen zu einer praxis- und institutionenanalytischen Rekonstruktion von Umgangsweisen mit dem Kinderschutz in Einrichtungen freier Träger bei. Sie können eine professionstheoretische Reflexion anstoßen, da sie folgende praktische Effekte des Kinderschutzes rekonstruieren: Erstens wird mit Clearing-Aufträgen eine Differenzierung der Kategorie der Adressatin entlang der Erziehungsfähigkeit angestoßen; zweitens wird eine innerhalb des Betreuungsverhältnisses zu bearbeitende Logik des Misstrauens etabliert; drittens werden Konflikte innerhalb des Betreuungsverhältnisses häufig auf das Kind(eswohl) verlagert, so dass sie als solche nicht mehr thematisierbar sind.

Mit Blick auf das in Kindheits- und der Familienforschung diskutierte Thema einer Erziehung der Eltern durch Programme zu Schutz, Förderung oder Bildung von Kindern zeigte das Projekt, wie Normen guter Mutterschaft mit solchen kindlicher Entwicklung verknüpft werden. Das bindungstheoretische Konzept der kindlichen „Signale“, das bei der Arbeit an der Erziehungsfähigkeit häufig vermittelt wird, erweist sich hierbei aufgrund seiner Uneindeutigkeit als probates Mittel einer unmittelbaren Erziehung von Frauen zu Müttern. In den Praktiken gehen damit objektivierende Inanspruchnahmen des Kindes einher, die diese Erziehung ermöglichen und im aktuell hegemonialen Wissen über die kindliche Entwicklung angelegt sind.

In raumtheoretischer Hinsicht wurde rekonstruiert, dass Mutter-Kind-Einrichtungen einen Beobachtungsraum konstituieren, in dem der Beobachtungsgegenstand (das Kind, seine Entwicklung/Gefährdung) auf Dimensionen ausgeweitet wird, die außerhalb des Beobachteten liegen. In den Mutter-Kind-Einrichtungen wird diese Entgrenzung zugleich wieder auf die vergeschlechtlichte Sorgearbeit verengt. Die Analyse des in diesem Sinne produktiven Beobachtungsraums trägt zu der aktuellen Erforschung der Beobachtung von Kindern in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen bei, indem sie zeigt, wie bei der Beobachtung von Kindern unter Einbezug verschiedener Mittel (materieller Raum, Alltagsregularien, Wissen über die kindliche Entwicklung) ein differenzierender Blick auf Eltern und insbesondere Mütter erzeugt wird.

Vorstudien des Projekts: 

Die Fragestellung des DFG-Projektes wurde im Rahmen von zwei vorausgehenden Projekten entwickelt. 
Im Rahmen einer Anschubfinanzierung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst wurde 2011 über die Laufzeit von sechs Monaten die Vorstudie "Sorge und Erziehung unter Beobachtung. Zur praktischen Formierung des Verhältnisses von Geschlecht und Elternschaft in Feldern der institutionalisierten Erziehungshilfe" durchgeführt.
Zuvor wurde im Jahr 2009 über die Laufzeit von drei Monaten eine Pilotstudie in Mutter-Kind-Einrichtungen des Strafvollzugs durchgeführt. Projektskizze "Klein(st)Kinder mit ihren Müttern in Haft“ sowie der Forschungsbericht.

Projektbezogene Publikationen: 

Klein, Alexandra; Ott, Marion; Seehaus, Rhea; Tolasch, Eva (2018). Die Kategorie der ‚Risikomutter‘. Klassifizierung und Responsibilisierung im Namen des Kindes. In: Roland Anhorn, Rolf Keim, Kerstin Rathgeb & Johannes Stehr (Hrsg.). Politik der Verhältnisse – Politik des Verhaltens: Widersprüche der Gestaltung Sozialer Arbeit, Band 2 (S. 127-142). Wiesbaden: Springer VS.

Hontschik, Anna (2016). Elternkompetenz im Bereich stationärer Hilfen für junge Mütter. Eine ethnographische Studie. Masterarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Hontschik, Anna & Ott, Marion (2017). Die stationäre Mutter-Kind-Einrichtung als pädagogisch institutionalisierter Wohnraum. In Miriam Meuth (Hrsg.), Wohnräume und pädagogische Orte. Erziehungswissenschaftliche Zugänge zum Wohnen (S. 123-148). Wiesbaden: Springer VS.

Ott, Marion (2018 i.Ersch.). Mütterliche Erziehungsfähigkeit‘, ,Kindeswohl‘ und die Frage nach dem Interesse der Mutter als Person – normative Prämissen in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen. Reflexive Analysen zur Normalisierung von Mutterschaft. In Meike Baader & Elisabeth Tuider (Hrsg.). Mutterschaft im Diskurs. Kontinuitäten und Neukonfigurationen. Frankfurt am Main: Campus

Ott, Marion (2017). Zur Organisation von Beobachtungsräumen im Spannungsfeld von Elternverantwortung und Kinderschutz. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE) 37, 4, S. 350-365.

Ott, Marion (2017). Das ‚Kindeswohl‘ als Bezugspunkt in stationären Hilfen für junge Mütter. In Ferdinand Sutterlüty & Sabine Flick (Hrsg.), Der Streit ums Kindeswohl (S. 166-188). Weinheim: Beltz Juventa.

Ott, Marion (2017). Mutterschaft und Kindeswohl im Rahmen stationärer Betreuung. In: Betrifft Mädchen. 3, S. 169-173.

Ott, Marion (2017), ,Mütterliche Kompetenz‘ im Spannungsfeld von Darstellung und Adressierung. Erziehungsverhältnisse in Stationären Mutter-Kind-Einrichtungen machtanalytisch betrachtet. In Eva Tolasch & Rhea Seehaus (Hrsg.), Mutterschaften sichtbar machen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge (S. 271-288). Opladen: Barbara Budrich.

Ott, Marion (2015). Begleitung, Betreuung und/oder Überwachung. Praktiken der Beobachtung und Bearbeitung von Mutterschaft in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen des Strafvollzugs. In Rhea Seehaus, Lotte Rose & Marga Günther (Hrsg.). Vater, Mutter, Kind? – Geschlechterpraxen in der Elternschaft (S. 259-279). Opladen: Budrich.

Ott, Marion (2013). Mütter mit Klein(st)kindern in Haft. Vorstellung einer ethnographischen Studie. In Lydia Halbhuber-Gassner & Gisela Pravda (Hrsg.). Frauengesundheit im Gefängnis (S. 57-70). Freiburg: Lambertus.

Ott, Marion (2011). Klein(st)kinder mit ihren Müttern in Haft. Eine ethnographische Studie zu Entwicklungsbedingungen im (offenen und geschlossenen) Strafvollzug. Forschungsbericht – überarbeitete Fassung des Erstberichts von 12/2009 [http://www.pedocs.de/volltexte/2012/5768 oder http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0111-opus-57680].

Ott, Marion; Hontschik, Anna & Albracht, Jan (2015). (Gute) Mutterschaft und Kinderschutz in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen. Zur Konzeption von Erziehungsfähigkeit im Spannungsfeld von Stärkung und Abklärung. In Susann Fegter, Catrin Heite, Johanna Mierendorff & Martina Richter (Hrsg.): Neue Aufmerksamkeiten für Familie. Diskurse, Bilder und Adressierungen in der Sozialen Arbeit (S. 137-148). Lahnstein: neue praxis.

Ott, Marion & Roch, Anna (2017). Elternverantwortung als Lerngegenstand? Zur disparaten Produktivität praktischer Bezugnahmen auf das ‚Wohl(ergehen) des Kindes‘. In Kerstin Jergus, Jens Oliver Krüger & Anna Roch (Hrsg.), Elternschaft zwischen Projekt und Projektion. Aktuelle Perspektiven der Elternforschung (S. 167-186). Wiesbaden: Springer VS.

Vorträge im Projektkontext:

2017

Marion Ott und Eva Sänger: Machtanalytik und Ethnographie verbinden. Methodologische Überlegungen zur Materialisierung von Mutterschaft. Vortrag im Rahmen der Tagung „Aktuelle Herausforderungen der Geschlechterforschung“ Erste Gemeinsame Tagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien e.V. (Deutschland), der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung ÖGGF und der Schweizer Gesellschaft für Geschlechterforschung SGGF an der Universität zu Köln vom 28. bis 30. September 2017.

Marion Ott: Zur Analyse von Widersprüchen und Konflikten in sozialpädagogischen Betreuungsverhältnissen am Beispiel stationärer Mutter-Kind-Einrichtungen. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Familien im Zentrum Sozialer Arbeit – Aktuelle Themen und Theoriediskurse“, organisiert von Prof. Dr. Kim-Patrick Sabla an der Universität Vechta am 20.06.2017.

Marion Ott: Stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen zwischen Familienorientierung und Kinderschutz. Vortrag im Rahmen des Kolloquiums des Instituts für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe der Goethe-Universität Frankfurt am 25.04.2017.

Marion Ott: Zur Beobachtung von Mutterschaft zwischen Elternrecht und Kindeswohl. Vortrag auf dem International Day der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaft (ZHAW) am 04. April 2017 in der Mittagsveranstaltung zum Thema „Mutterschaft unter Beobachtung. Kritische Fragen aus Forschungen zu Mutter-Kind-Institutionen in Deutschland und der Schweiz“.

2016

Marion Ott und Anna Roch: Mobilisierte Elternschaft. Zur Materialisierung von Bildungsräumen unter Bezug auf das Kindeswohl. Vortrag im Rahmen des Symposium „Widersprüche der Materialisierung neuer Bildungsräume“, organisiert von Dr. Marion Ott und Prof. Dr. Daniel Wrana, auf dem 25. Kongress der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 13. bis 16. März 2016 in Kassel.

Marion Ott: ,Mütterwohl‘ und Kinderschutz in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen. Zum Verhältnis von theoretischen Perspektiven der Forschung und spezifischen Positionierungen der Forschenden im Feld. Vortrag auf der Tagung „Ethnographie der Praxis - Praxis der Ethnographie“ vom 22. bis 14. Februar 2016 an der Universität Hildesheim.

Marion Ott und Anna Hontschik: Die stationäre Mutter-Kind-Einrichtung als ‚Wohnraum‘. Zur pädagogischen Beobachtung und Bearbeitung von Erziehungsverhältnissen im ‚privaten Rückzugsraum‘. Vortrag im Rahmen der Arbeitstagung „Wohn-Räume und pädagogische Orte“ vom 7. bis 9. Januar 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

2015

Marion Ott: Gegenstandsbezogene Überlegungen zur Verbindung von Machtanalytik und Ethnographie. Gastvortrag im Rahmen des Kolloquiums von Prof. Dr. Eva Sänger (Vertr. Prof‘in) und Prof. Dr. Thomas Lemke in der Arbeitseinheit „Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft“ am 19.11.2015 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Marion Ott: Mutterschaft (ein-)trainieren in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen. Wissensvermittlung und -bearbeitung im Kontext von Kinderschutz und -förderung. Vortrag auf dem 9. Bundeskongress soziale Arbeit zum Thema „Politik der Verhältnisse – Politik des Verhaltens. Widersprüche der Gestaltung Sozialer Arbeit“ vom 30. September bis 2. Oktober 2015 in Darmstadt.

Marion Ott: Mutterschaft unter Beobachtung. Erziehungsverhältnisse in stationären Mutter-Kind-Einrichtungen. Vortrag auf dem Fachtag „Mutterschaft sichtbar machen. Sorgepraxis zwischen mütterlicher Verantwortung und wissenschaftlicher Vernachlässigung“, 25. September 2015 an der University of Applied Sciences Frankfurt am Main. Veranstalterinnen: Rhea Seehaus und Eva Tolasch.

Marion Ott: Bezugspunkt Kindeswohl. Zur Transformation stationärer Hilfen für (junge) Mütter. Vortrag auf der Workshoptagung „Der Streit ums Kindeswohl. Genese, Problemlagen, Deutungen“ vom 16. bis 17. Januar 2015 in Frankfurt am Main. Veranstalter: Institut für Soziologie (Ferdinand Sutterlüty) der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main.

2014

Marion Ott: Klein(st)kinder mit ihren Müttern in Haft. Impulsvortrag vor dem Hintergrund der ethnographischen Studie auf der Jahrestagung der Arbeitsgruppe Frauenvollzug der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland „Schwangerschaft und Mutterschaft in Haft“ vom 20. bis 24. Januar 2014 in Friedberg.

2013

Marion Ott: Mütter mit Klein(st)kindern in Haft. Vorstellung einer ethnographischen Studie. Vortrag auf der Fachtagung des Sozialdiensts katholischer Frauen München „Gesundheitliche Aspekte inhaftierter Frauen“ vom 23. bis 24. April 2013 in Nürnberg.