VCTR – The Virtual Cuneiform Tablet Reconstruction Project

Das Projekt wurde gemeinsam von Wissenschaftlern der Universitäten Frankfurt und Birmingham (UK) ins Leben gerufen. Ziel war es, Bruchstücke von Keilschrifttexten, die als 3D-Scans vorliegen müssen, mit Hilfe eines Computers „ohne menschliches Zutun“ zusammenzusetzen (zu „joinen“). Der Durchbruch gelang im Mai 2014: zum ersten Mal wurden Fragmente eines babylonischen Briefes mit Hilfe des neu entwickelten Algorithmus „automatisch“ zusammengefügt. Mittlerweile können die 3D-Scans durch 2D-Fotos ersetzt werden.

Die Methode lässt sich mit wenigen Worten skizzieren. Das aufzunehmende Fragment wird auf einen Drehteller, der mit einem Laptop und einer Kamera verbunden ist, gelegt. Nach dem Aufnehmen des ersten Fotos dreht sich der Teller um 10°, es wird ein zweites Foto aufgenommen usw. Aus diesen Bildern wird zunächst eine Punktwolke errechnet, die dann zu einem virtuellen 3D-Modell weiterverarbeitet wird. Soll geprüft werden, ob zwei Fragmente einen Join bilden, werden sie in die jeweils kleinstmöglichen virtuellen Quader eingepasst. Im Normalfall ist eine beschriebene Seite des Fragments in etwa parallel zu einer Fläche des Quaders. Pro Fragment stehen damit 6 mögliche Joinflächen zur Verfügung.

[Abb. 1] Unser erster Join: W 18349 + Wy 777 (Heidelberg). Publikation mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Archäologischen Instituts, Berlin.

Das Programm fixiert eines der zwei Fragmente und prüft, ob sich das andere lückenlos anschließen lässt. Insgesamt gibt es 6 Freiheitsgrade (3 in der Translation, 3 in der Rotation). Da sich die Stücke nicht durchdringen dürfen, entfällt ein translatorischer Freiheitsgrad für die Untersuchung (bei Benutzung kartesischer Koordinaten die z-Richtung). Die verbleibenden xy-Translationsgitter werden mit einer Schrittweite von 0,5 mm systematisch abgesucht. Wegen der vorgegebenen Orientierung der Fragmente sind jeweils nur Drehungen um wenige Grad möglich. Um hier die günstigste Position zu finden, wird ein Optimierungsalgorithmus eingesetzt. Er versucht, die Orientierungswinkel iterativ mit dem Ziel, die Werte einer Kostenfunktion zu minimieren, anzupassen. Die „Kosten“ entsprechen den Abständen zwischen gegenüberliegenden Punkten auf den beiden versuchsweise zu joinenden Bruchflächen der Fragmente: je geringer die Kosten, desto wahrscheinlicher der Join.

Höhepunkt war der Nachweis eines Joins zwischen zwei Fragmenten mit einem literarischen Text, von denen sich eines im Britischen Museum und das andere im Museum für Kunst und Geschichte in Genf befindet.

[Abb. 2] Arbeit im Britischen Museum, London. In der rechten Bildhälfte der Drehteller mit dem aufzunehmenden Fragment.

Dieser Join war bereits vermutet worden, da literarische Texte oft in mehreren Kopien vorliegen. Ganz anders verhält es sich bei Wirtschaftstexten, die im Gegensatz zu literarischen Texten Unikate sind. Hier lassen sich Joins kaum vorhersagen. Das eigentliche Ziel des Projekts ist es, ganze Textarchive zusammenzusetzen. Ein Archiv war auch der Ausgangspunkt des Projekts: das in Uruk geborgene Eanna-Archiv aus der Zeit Nebukadnezars II., das sich wegen der zur Zeit der Ausgrabung üblichen Fundteilung zur Hälfte in Heidelberg und zur Hälfte in Bagdad befindet. Unter den Heidelberger Stücken gibt es theoretisch 3,6 Millionen Joinmöglichkeiten; nimmt man die Stücke aus Bagdad hinzu, erhöht sich die Anzahl auf mehr als 14 Millionen. Allein das manuelle Ausprobieren der Heidelberger Möglichkeiten würde 20 Jahre in Anspruch nehmen, der Computer hingegen könnte es in wenigen Tagen erledigen. Ohne Hilfe des Computers wäre auch das Zusammenführen der Heidelberger und der Bagdader Stücke kaum möglich. Hierin liegt die Stärke des Verfahrens. Und es gibt nicht nur das Eanna-Archiv, sondern viele weitere Archive in den Museen der Welt. Es nimmt auch nicht wunder, dass das Verfahren bei Anpassung der Parameter auf andere Artefakte anwendbar ist: derzeit arbeiten wir in einem Museum in Stoke-on-Trent mit Fundstücken aus dem „Schatz von Staffordshire“.

Das Projekt wurde in Vorträgen im Britischen Museum, an mehreren Universitäten (u. a. Frankfurt und Keele) und auf internationalen Kongressen (Hongkong, Philadelphia, Dublin, Marburg) vorgestellt. Rundfunkbeiträge sind im Deutschlandfunk und im SWR gesendet worden. Einzelheiten und Literaturhinweise findet man auf der Projekthomepage:

 http://virtualcuneiform.org/

 Ansprechparter: Dr. Erlend Gehlken (gehlken@em.uni-frankfurt.de)