Dr. Jenny Willner: Fossilienlektüren des Widerstands. Historischer Materialismus und Naturgeschichte

Vortrag am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft im Rahmen des Seminars „Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands“ bei Jonathan Schmidt-Dominé

Donnerstag, 14. November 2019, 12 h c. t. im Raum SH 3.101 (Seminarhaus)

Poster Fossilienlektüren des Widerstands

Abstract

Es ist der 22. September 1937. Der Staatsbesuch Mussolinis in Berlin steht unmittelbar bevor und SS-Verbände gehen mit besonderer Härte gegen unerwünschte Personen im Straßenbild vor. Unterdessen tobt in Spanien der Bürgerkrieg, und in Moskau werden seit dem Vorjahr Schauprozesse geführt, in deren Rahmen Hauptvertreter der Politikergeneration der Oktoberrevolution liquidiert werden. Wer hat da die Muße, über Fossilien ausgestorbener Lebewesen nachzudenken?

In Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands gehen die antifaschistischen Haupfiguren ausgerechnet an diesem Tag ins Berliner Naturkundemuseum und betrachten Fossilien (der Berliner Archaeopteryx im Bild). Noch am gleichen Abend fliegt der Erzähler rücklings über die Stadt und konstatiert, dass „alles materiell“ sei, „daß wir allem auf Tod und Leben ausgeliefert“ und die „Haufen der Toten“ „nicht wegzuleugnen“ seien.

Mit Blick auf unsere eigene politische Gegenwart lohnt es sich, das Widerstandsdenken in Weiss’ Roman zum Gegenstand einer aktualisierenden Lektüre zu machen. Braucht der antifaschistische Kampf eine Naturkunde? Im Roman von Weiss hat Materialität durchaus, wie bei Walter Benjamin, mit Kreatürlichkeit im Sinne einer Natur- und Todesverfallenheit zu tun. Vor dem Hintergrund sowohl der Gefahr von Rechts als auch des Klimawandels, erscheint gerade der naturhistorische Strang des Romans in einem neuen Licht. Eine so implizite wie durchgehende Kritik des populären Darwinomarxismus durchzieht die Romantrilogie. Sie führt zurück zur Frage: Was geschah, als Marx und Engels Darwin lasen? Dieser Problemkomplex ist für die Suche nach einer anderen Ästhetik, nach einer anderen Politik zentral. Der Anspruch besteht darin, Widerstand jenseits des Fortschrittsparadigmas zu denken und zu üben, Widerstand ohne Verdrängung der Katastrophe.

Zur Person

Jenny Willner lehrt und arbeitet am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Der Vortrag steht im Schnittpunkt zweier von Jenny Willners zentralen Forschungsgebieten: Ihre Dissertation widmete sich dem Komplex von Sprache und Gewalt bei Peter Weiss, dessen Notizbücher sie auch mitediert hat. Ihr aktuelles Habilitationsprojekt befasst sich hingegen mit der Rezeption der Darwin’schen Evolutionstheorie sowohl in Weltanschauungsliteratur (Haeckel, Bölsche) um 1900 als auch in der Psychoanalyse, insbesondere bei Freud und in Sándor Ferenczis Bioanalyse.

Alle Interessierten sind herzlich eingeladen! Weitersagen erwünscht! Eine Anmeldung ist nicht notwendig. Wer Interesse an der um 16 h an den Vortrag anschließenden gemeinsamen Seminar-Sitzung mit Jenny Willner zu Kafkas Schloss in der Ästhetik des Widerstands hat, melde sich gerne bei Jonathan Schmidt-Dominé.

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