1. Die Theaterwissenschaft gehört
zu den sogenannten kleinen Fächern. Bitte stellen Sie uns Ihr Fach in wenigen
Sätzen vor.
Die
Theaterwissenschaft beschäftigt sich mit Theorie und Geschichte des Theaters in
allen seinen Erscheinungsformen, sowie mit der Inszenierungs- bzw.
Aufführungsanalyse. Darüber hinaus erforscht sie theatrale Phänomene im
weiteren Sinne. Sie ging um 1900 aus der Literaturwissenschaft hervor, wurde
als ordentliches Fach aber erst in den 30er-Jahren an den Universitäten
eingeführt. Ihr Gründungsvater im deutschen Sprachraum, Max Herrmann, wurde
1941 in Theresienstadt ermordet. Seit den 70er-Jahren hat sich das Fach von der
Gründer*innengeneration der 30er- und 40er-Jahre emanzipiert und ist durch eine
längere Methodendiskussion zu einem Forschungsfeld mit unterschiedlichen
Schwerpunkten geworden.
2. Was zeichnet Ihr Fach am Standort Frankfurt besonders aus?
Drei
Aspekte kennzeichnen das Frankfurter Profil:
- Internationalisierung
- Kritische Theorie / Genealogie
- Gegenwartsorientierung.
Zur
Erläuterung:
ad
1.) Die Theaterwissenschaft ist ihrer Provenienz nach ein weithin trotz
anderslautender Prämissen nationalphilologisch orientiertes Fach, dessen
Internationalisierung heute im Interesse der angemessenen Erkenntnis seines
Gegenstandes wie auch der Begrenzung der überkommenen Forschungsansätze
dringend geboten ist. Dem steht allerdings eine Theaterlandschaft entgegen, die
im deutschsprachigen Raum ein sehr spezifisches historisches Modell immer noch
weithin als Norm propagiert und verteidigt.
ad
2.) Daraus ergibt sich die spezifische Arbeit, der wir hier in Frankfurt im
Kontext kritischer Theorie und einer mittlerweile langjährigen
Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus in allen seinen Ausprägungen
(literary criticism, post-colonial theory, gender studies...) verfolgen: Die
kritische und genealogische Aufarbeitung der heutigen Normen und Institutionen,
in denen sich spezifische historische Verschiebungen abbilden, die aus heutiger
Sicht in genealogischer Perspektive neu zu beleuchten sind.
ad
3.) Dabei steht die heutige Sicht für eine am Gegenwartstheater in allen seinen
Ausprägungen geschulte Sicht auf die Geschichte, Theorie und Analyse auch des
vergangenen Theaters. Das Fach geht in seiner Frankfurter Ausprägung davon aus,
dass die im experimentellen Gegenwartstheater aufgeworfenen ästhetischen Fragen
und Ansätze eine rückwirkende Verschiebung auch der vergangenen Phänomene mit
sich bringen, die in die Forschung einbezogen werden müssen. Deshalb ist auch
integraler Bestandteil Frankfurter Lehre wie Forschung die Verknüpfung
theoretischer, historischer und analytischer Ansätze mit künstlerisch-praktischer
Forschung, wie wir sie im engen Kontakt mit Theaterinstitutionen und –künstlern
verfolgen. Spezifisch für die Frankfurter Theaterwissenschaft ist dabei ein
Schwerpunkt auf dem Gebiet der Dramaturgie, der sich auch in der Gründung
zweier MA-Programme niedergeschlagen hat: Der im Rahmen der Hessischen
Theatreakademie angebotene Studiengang Dramaturgie (2002) und der
internationale mit fünf europäischen Partnern angebotene Studiengang
Comparative Dramaturgy and Performance Research (2017)
3. Womit beschäftigen Sie sich aktuell in Ihrer Forschung?
Aktuell
arbeite ich an drei längerfristigen Forschungsthemen:
1. An einer
Theorie der Dramaturgie, die genealogisch die Entstehung von Dramaturgie im
modernen Sinne im 18. Jahrhundert als Teil eines umfassenden Wechsels von einer
macchiavellistischen Politik zu einer gouvernementalistischen Politik. Der
Kunst des Regierens korrespondiert im Theater eine Regierung der Künste. Diese
hat von Anfang an einen Doppelcharakter, den man mit den Begriffen Polizei und
Politik beschreiben kann.
2. An einer
Theorie des „Script-basierten Theaters“, in deren Zentrum die Frage steht, wie
man das „Script“ genauer fassen kann. Klassisch wird es von Drama, Theater und
Performance als der Bereich unterschieden, der mit dem Übergang vom Drama oder
anderen Formen der Konzeption zum Theater zu tun hat. Dieser Bereich wird dabei
eher vage dargestellt. Meinen Überlegungen nach lässt sich aber von der
Hypothese ausgehen, dass alles, was erscheint, in der einen oder anderen Form
„scripted“ ist. Von hier aus zeichnet sich eine neue Theorie des Theaters von
seinen Anfängen bis in die Gegenwart ab.
3. An einer
Serie von Aufsätzen, die unter dem Titel „Der eine und der andere Brecht“
aufbauend auf der Entdeckung des „anderen Brechts“ in den 90er-Jahren
untersuchen, wie der aus Sicht einer Generation von Brecht-Forschern radikalste
und in Theaterzusammenhängen interessanteste Brecht, derjenige der späten 20er
–und frühen 30er-Jahre, in seinen späteren Jahren aus politischen Gründen zu
Kompromissen gezwungen ist, die einerseits dazu führen, dass er weltweit
Erfolge feiert, andererseits aber bis heute den Blick auf seine radikalsten
Theaterentwürfe verstellt.
Daneben
arbeite ich an längerfristigen Projekten zum post-traumatischen Theater und zum
Komischen als Paradigma der Modernitätserfahrung.
4. Was erwartet diejenigen, die sich
für ein Studium der Theaterwissenschaft entscheiden?
Das Studium eines Faches, das an einem äußerst vielschichtigen Gegenstand,
der nach keiner Seite begrenzbar ist und deshalb Fragen der Ästhetik, der
Politik, der Philosophie, der Literatur, des Raumes, des Lichts, der
Rollenzuschreibung und Identität, der Zeit und viele andere mehr umfasst,
lehrt, was es heißt, forschend und kritisch zu schauen, lesen, denken und schreiben.
Im engeren wie im weiteren Sinne wird Theater untersucht, ein Phänomen, das von
dem, was auf den Bühnen der großen Stadt- und Staatstheater gezeigt wird, über
die vielfältigen Formen des Theaters in der freien Szene, in Performance, Cross
Over-Künsten, Happenings, Installationen und Konzeptkunst-Arbeiten bis hin zum
alltäglichen Theater reicht, das Kinder und Erwachsene sich und anderen
aufführen, um sich in der Welt
zurechtzufinden.
5. Nennen Sie uns drei Gründe, warum
es aus Ihrer Sicht eine gute Entscheidung ist, Theaterwissenschaft zu
studieren.
Theaterwissenschaft ist ein Fach, durch dessen Studium man das Lesen,
Schauen, Denken und Schreiben über komplexe Gegenstände lernt. Es beschäftigt
sich mit einem faszinierenden Gegenstand. Es ist zugleich ein Fach, das viele
andere Gebiete mit berührt und vermittelt als Studienfach deshalb zunächst
einmal eine sehr breite und belastbare Bildung, auf die in alle möglichen
weiteren Richtungen aufgebaut werden kann.