Der ideelle ‚Gesamtavantgardist‘

Die Wiederkehr der Avantgarde im globalen Kapitalismus

Öffentlicher Online-Vortrag von Dr. des. Sebastian Schuller, Dienstag, 29. Juni 2021, 14h c.t. im Rahmen des Seminars Dichtung und Leben in der Avantgarde

„Kunst ist auch systemrelevant!“ Unter diesem Schlagwort protestierten im Sommer letzten Jahres zahlreiche Kulturschaffende immer wieder gegen die Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung. Es wird darauf insistiert, dass Kunst und Kultur besondere Räume im Gesellschaftlichen offenhielten, in denen politische Debatten und Dissidenz frei sich entfalten könne – es handle sich hier um Residuen des Widerstands, die durch die hygienepolitischen Maßnahmen der Regierung nun bedroht seien. Zugleich aber ist mit der Rede von ‚Systemrelevanz‘ eine Integration des Ästhetischen und der Kultur in ‚das System‘ implizit mit angesprochen; ist Kunst systemrelevant (also: relevant für den Fortbestand des Kapitalismus), kann sie so viel von Großbanken, Reiseunternehmen oder der Autoindustrie (alles Bereiche, die qua Systemrelevanz jene finanziellen Zuwendungen allerdings erfuhren, die nun die Kultur für sich einfordert) nicht unterscheiden.

Diese Ambiguität lässt sich als exemplarische Erfahrung für eine gegenwärtige geschichtliche Kondition von Kunst und Literatur begreifen, welcher Sebastian Schuller in seiner Dissertation Realismus des Kapitals. Marxistische Literaturtheorie im Zeitalter des globalen Kapitalismus (Wilhelm Fink Verlag, 2021) nachgeht: Kunst und Kultur sind in die Maschinen des globalen Kapitalismus eingebunden, sie sind strukturiert von der Logik des Kapitals. Und mehr: Es lässt sich die Emergenz eines „ästhetischen Kapitalismus“ (Lipovertsky) beobachten, in dem Kunst nur mehr eine Form kultureller Produktion des Kapitals wird. Den Hoffnungen auf Heteronomie, oder Autonomie des Ästhetischen, sowie der Idee eines widerständigen Potentials von Kunst und Kultur wird so eine Absage erteilt. Gleichsam in ironischer Erfüllung der Avantgarde hat der Kapitalismus Kunst und Leben vereinigt – wenn auch nicht unter dem Vorzeichen der Emanzipation, sondern in einem globalen Regime unhintergehbarer Kommodifizierung.

In seinem Vortrag wird Schuller diese These vorstellen und dem Zusammenhang von historischer Avantgarde und unserem jetzigen Prädikament nachspüren. Dabei wird nicht nur zur Sprache kommen, warum der globale Kapitalismus unserer Gegenwart in einer Tradition mit den historischen Avantgarden steht (und der Revolte von ‚1968‘ alles verdankt), sondern auch, warum ausgerechnet diese Situation eine Möglichkeit darstellt, die marxistische Literatur- (und Kultur-)betrachtung zu erneuern.

Anmeldungen bitte per E-Mail an Jonathan Schmidt-Dominé.