Ernst Nay, „Tausend Stimmen“

Ernst Nays Tausend Stimmen ist keines der klassischen Scheibenbilder. Zwar lässt sich das Grundmuster, die Kompositionen aus farbigen Rundscheiben, welches Nay in den 50er Jahren zur Perfektion brachte, noch erkennen. Die prachtvolle, schwerelose Schönheit aus klaren, hellen Farbakkorden ist allerdings einem eher aggressiven Rauschen dicht  gedrängter Farben gewichen.

 
   

Heftige Pinselhiebe vermitteln den Eindruck einer zügellosen Spontanität, die den sorgfältig abgewogenen Kompositionen früherer Bilder absolut fern scheint. Im Auftrag der Freiburger Universität hatte Nay 1956 ein Wandbild für das Vestibül des Chemischen Instituts begonnen. Das Freiburger Bild ist heute sein Berühmtestes. Es zeigt eine der schönsten Farbchoreographien, die Nay erfand. Kleine und große Scheiben gliedern und dynamisieren die Fläche, stabilisieren sie und versetzen sie zugleich in Bewegung.

Nays Bilder stellen nicht dar, sondern wollen Ereignis sein. Vor den Augen des Betrachters vollziehen sich vielfältige Bewegungszüge. In gleitenden Passagen, wie einer Kette aus Rot, Orange und Gelb, in klingenden Variationen eines Haupttones oder dröhnenden Kontrasten tanzen die Farbkreise über die Fläche. Die natürliche Distanzwirkung bei der Rot neben Blau nach vorn drängt und die schwächere Farbe zurücksinken lässt wird gestört. Nay deutet die natürlichen Energien der Farben um, indem er schwächere Farben durch stärkere Formen aufwertet. Die vom Gegenstand gelösten Farb- und Formwerte werden von ihm  in verschiedenartigen Konstellationen miteinander verspannt. Einem Musikstück ähnlich, wirken die farblichen Dissonanzen und Harmonien unmittelbar auf den Betrachter. Das denkende Auge, das mit Hilfe von Form und Farbe gewöhnlich den Gegenstand aus der Fläche zieht, wird zur reinen, sinnlichen Erfahrung angehalten. Im unschuldigen Zustand nimmt es  das Farbspiel als Schwingung wahr, die die Fläche zum Pulsieren bringt.

Nays Widerwille sich der prunkhaften Schönheit seiner Kompositionen hinzugeben, in denen die Abgründe des menschlichen Daseins ausgeblendet scheinen, drängte ihn zu neuen Ausdrucksweisen. Während er in seinen großformatigen Werken weiterhin an dem Scheibensatz festhält, vernachlässigt er diesen seit 1957 in seinen kleinen Bildern immer häufiger. Wie aus Protest gegen das straffe Scheibensystem entwickeln sich hier beunruhigende, aus improvisatorischem Impuls gewonnene Kreationen. Mit „Tausend Stimmen“ tritt der künstlerische Konflikt 1961 auch großformatig in Erscheinung. Die bewährte Ordnung scheint das Chaos aus vielen widersprüchlichen Stimmen noch einmal zusammenhalten zu wollen. Aber das bisher leitende Formmotiv, die runde Scheibe, wird von einem hektischen Pinsel gewaltsam durchstrichen. Tausend Stimmen macht den kreativen Prozess sichtbar. Indem Nay die bestehende Ordnung auflöst, riskiert er das Chaos und schafft zugleich die Möglichkeit einer neuen Darstellungsform, die er in den sogenannten Augenbildern der 60er Jahre verwirklicht. 1965 wurde das Bild für die neu eingeweihte Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt erworben.

1938 wurden Ernst Nays Bilder als „entartet“ ausgestellt. Nach dem Krieg kehrte Nay nicht in seine Heimatstadt Berlin zurück, wo er 1902 zur Welt gekommen war, sondern ließ sich in Hofheim im Taunus nieder. In den 50er Jahren entwickelte sich Nay, mittlerweile in Köln ansässig, zu einem der wichtigsten Maler der Nachkriegszeit.

Michaela Filla