Ossip Zadkine, „Prometheus“

Ein stummer Wächter hütet den Eingang zu den Lesesälen der Universitätsbibliothek. Mit ihrer Höhe von drei Metern überragt Ossip Zadkines bronzene Skulptur die vorbeieilenden Studenten und wird trotzdem nur selten beachtet. Der expressive Formenreichtum macht es nicht gerade leicht die menschliche Gestalt in ihr zu erkennen. Der aufmerksame Betrachter wird jedoch belohnt: Vor seinen Augen verwandelt sich die abstrakte Architektur aus geometrischen Formen in einen menschlichen Körper. Bald kann er sich auch dem Eindruck von Bewegung nicht mehr entziehen. Die riesige Gestalt scheint auf ihn zu zustürmen, das Gewand umweht die voranschreitenden Beine in großen Wellen. Vor der Brust schwebt eine züngelnde Flamme. Sie liefert den entscheidenden Hinweis auf die Identität der Figur.

 
   

Prometheus, der Menschenfreund, ist hier dargestellt und zwar just in dem Moment, in dem er den Menschen das Feuer bringt. Vertraut ist uns die Darstellung des für den Feuerraub von Zeus bestraften, an einen Felsen geketteten, von einem Adler penetrierten Prometheus. Die mythologische Gestalt des Prometheus erfuhr im abendländischen Denken mehr als eine Deutung. Prometheus galt seit der Antike als Kulturbringer, der den Menschen zu einem geistigen Wesen und zum Herrn über die Natur machte. Während der Renaissance spielte die Beziehung zwischen dem Menschenschöpfer Prometheus und dem Künstler als einem zweiten Schöpfer eine große Rolle. Die Aufklärer des 18. Jahrhundert erkannten in Prometheus Rebellion gegen Zeus die Auflehnung des Geistes gegenüber jeder Form von Unterdrückung, ob weltlich oder göttlich. Bis heute steht der Prometheus-Mythos für die menschliche Fähigkeit die Welt zu verändern, sowohl im positiven als auch negativen Sinn. Eine Ambivalenz, die auch in Zadkines Figur angelegt ist. Das Feuer ist nicht nur Attribut dieses Prometheus, sondern scheint ihn zu verschlingen. Die Oberflächenstruktur des Bronzeguss verrät, dass die ursprüngliche Version in Holz geschlagen wurde. Der blockartige Kopf erinnert an ein Kapitel. Eine Volute windet sich um das rechte Auge. Die linke Gesichtshälfte springt hervor, ist weniger ausgearbeitet. Zadkine fragmentiert und komponiert die dreidimensionale Gestalt nach kubistischen Prinzipien und potenziert dadurch ihre Ansichtigkeit.

 

Zadkine zählt zu den Erneuerern der Skulptur, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den traditionellen, akademischen Formenkanon sprengten und den guten Geschmack mit einer expressiven Formsprache, inspiriert durch afrikanische Volkskunst, herausforderten. Zadkine wurde 1890 im russischen Witebsk in ein akademisches Elternhaus geboren. Seine musischen Fähigkeiten wurden schon früh gefördert. Trotzdem kam es zu einem Zerwürfnis als Zadkine 1906 ohne das Einverständnis seines Vaters, einem jüdischen Professor für alte Sprachen, den Weg seiner künstlerischen Selbstfindung in London begann. Seine Leidenschaft fürs Holz hatte er bereits als Kind in der Werft seines Onkels entdeckt, während die humanistische Erziehung seines Vaters ihm die Welt der griechischen Antike nahe gebracht hatte. 1909 fand Zadkine seine neue Heimat in Paris. Von der nationalsozialistischen Eroberung zur Flucht in die Staaten gezwungen und dort als Künstler durchaus erfolgreich, kehrte er mit dem ersten Schiff, das ihn aufnehmen konnte, ins befreite Paris zurück. Die Darstellung des Prometheus, die 1964 für die Frankfurter Universität in Bronze gegossen wurde, ist neben dem berühmten Mahnmal für Rotterdam Zadkines bedeutendste Plastik.

Michaela Filla