Interview: Die Gekränktheit alter Männer

Fragen an Prof. Hans-Jürgen Wirth, Sozialpsychologe an der Goethe-Universität, zur Debatte um Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“

Veröffentlicht am: Mittwoch, 18. April 2012, 16:14 Uhr (010)


Herr Prof. Wirth, die Debatte um Grass‘ Gedicht beschäftigt seit einigen Tagen die Öffentlichkeit. Ist der Rummel Ihrer Ansicht nach begründet?

Von der Sache her ist der Rummel um das Gedicht von Grass nicht gerechtfertigt, denn es enthält keine neue Einsichten und Argumente. Das Aufsehen, dass es erregt hat, ist allein in dem hohen gesellschaftlichen Ansehen des Nobelpreisträgers begründet und den antisemitischen Klischees, mit denen das Gedicht spielt. Dieser Widerspruch wird als ungeheure Provokation empfunden, und insofern ist das große öffentliche Interesse psychologisch verständlich. Es ist auch politisch gerechtfertigt, dass sich die Medien so intensiv damit auseinandersetzen, weil der Nationalsozialismus, der Holocaust und das Verhältnis Deutschlands zu seinen jüdischen Bürgern und zu Israel nach wie vor das zentrale Thema der Zeitgeschichte ist. Es gehört ganz zentral zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, dass, wann immer dieser Themenkomplex berührt wird, eine ganz besondere Sensibilität notwendig ist. Wer diese Sensibilität aus Unachtsamkeit oder in provokativer Absicht nicht aufbringt, muss damit rechnen, in und von  der Öffentlichkeit kritisiert zu werden. Das war bei Martin Walsers Friedenspreisrede ebenso der Fall wie bei Helmut Kohls unglücklicher Formulierung von der „Gnade der späten Geburt“ oder auch bei der Rede von Jenninger, der zu stark versucht hatte, sich in die Psyche der Nationalsozialisten einzufühlen.

Grass hat sich mit seiner im Gedicht geäußerten Kritik an Israel, das ja zeitgleich in mehreren Ländern veröffentlicht wurde,  sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Erst seit wenigen Jahren weiß die Öffentlichkeit von seiner SS-Vergangenheit. Sie sind Sozialpsychologe, wie erklären Sie sich dieses eigensinnige und halsstarrige Verhalten von Grass?

Natürlich kann ich keine verlässliche Diagnose stellen, aber ich habe eine sozialpsychologisch begründete Interpretation: Günter Grass hält sich offenbar für einen der größten lebenden Schriftsteller. Er will beachtet und bewundert werden, auch für seine vermeintliche Weitsicht, die ihn die Probleme der Welt scheinbar klarer sehen lässt als alle anderen. Sein damaliger Eintritt in die Waffen-SS passt nicht zum Bild des großen Moralisten, das er Jahrzehnte mit Inbrunst von sich entworfen hat. Mit seinem wachsenden Weltruhm wurde dieser innere Zwiespalt immer unerträglicher. Gleichzeitig schoss bei Grass die Eitelkeit ins Kraut. Seine Eitelkeit und seine Selbstüberhöhung  immunisierten ihn immer mehr gegen Selbstkritik und so wurde es ihm nach 60 Jahren endlich möglich, seine SS-Mitgliedschaft en passant der Öffentlichkeit mitzuteilen, allerdings ohne sich einem inneren Prozess der Selbstbefragung, der Selbstzweifel, auch der Verzweiflung über sich selbst, der Scham, der Trauer auszusetzen.

Stattdessen nahm seine Selbstüberhöhung im Alter immer groteskere Formen, die in dem Gedicht nun ihren Höhepunkt gefunden hat. Der Altersnarzissmus und der Altersstarrsinn haben begonnen, seine Persönlichkeit zu untergraben, seine soziale und politische Sensibilität zu zerstören und seine kritische Selbstreflexion auszuschalten. Grass hat sich seiner eigenen SS-Vergangenheit nicht wirklich gestellt. Er ist ein Paradebeispiel für das Phänomen, das Alexander und Margarete Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern“ genannt haben. Statt jahrzehntelang den großen Moralisten zu spielen, hätte er über sich selbst trauern müssen. Vielleicht hätte er sich dann innerlich befreien können von dem Wiederholungszwang, die Moralkeule immer gegen andere zu schwingen und sich selbst als Opfer zu stilisieren. 

Man sagt älteren Menschen ja eine gewisse Gelassenheit nach. Warum zeigt sich bei Grass so wenig davon?

Das Altwerden geht mit Kränkungen einher, die das seelische Gleichgewicht auf eine harte Probe stellen. Zu den fundamentalen Kränkungen des Selbstwertgefühls gehört das Nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit ebenso wie das Überflügeltwerden durch Jüngere und das Nachlassen der sexuellen Potenz. Insbesondere für Männer ist die reale oder gefürchtete Pflegebedürftigkeit oft eine Schreckensfantasie. Ihr Selbstbild von Unverletzlichkeit, Stärke und letztlich Unsterblichkeit wird brüchig. Sigmund Freud sah im Tod eine große narzisstische Kränkung.

Bei Günter Grass (und ganz ähnlich bei Martin Walser) hat sich über die Jahrzehnte eine aufgeblähte Fantasie von der eigenen Großartigkeit entwickelt, das nun im Alter zu verblassen droht, weil die literarische Schaffenskraft nachlässt, die letzte Tinte im Füller versiegt und das Lebensende näher rückt. Die öffentliche Bühne wird ihnen nach und nach entzogen. Der Glanz in den Augen der Leserinnen und Leser verblasst, er reicht nicht mehr aus als Quell narzisstischer Zufuhr. Dieser demütigenden Erfahrung stemmt Grass sich entgegen. Es findet eine Regression zu früheren Lebensphasen statt, in denen er sich als heldenhafter Siegfried fühlen konnte: Die Zeit seiner Jugend, als der 17-Jährige Mitglied der Waffen-SS wurde. Die Verführungskraft nationalistischer, totalitärer, verbrecherischer Organisationen beruht ja darauf, dass sie Omnipotenzfantasien aufgreifen und instrumentalisieren, die zur Adoleszenz gehören.

Natürlich vertritt Grass heute nicht mehr die nationalsozialistische Ideologie. Aber in seinem Gedicht spricht er nicht mit der abgeklärten Weisheit eines Nobelpreisträgers, sondern sein Denken ist von den Affekten gesteuert, die der emotionalen Welt eines fanatisierten, draufgängerischen Jugendlichen entstammen. Von einem 17-Jährigen erwartet man nicht, dass er immer den richtigen Umgangston findet. Von einem Nobelpreisträger ist ein feines Gespür für Takt, Anstand und Einfühlung hingegen nicht zu viel verlangt.

Autoren wie Grass und Walser argumentieren häufig damit, individuell etwas äußern zu müssen, was man eigentlich in der Gesellschaft nicht sagen darf, und möchten damit auf bestimmte Tabuisierungen und Denkverbote verweisen. Schwankt die moderne Gesellschaft zunehmend zwischen „politischen Korrektheiten“ und Tabubrüchen, wird sozusagen die „einfache Wahrheit“ unsagbar?

Das ist ein guter Gedanke! Der Moralismus, der im Zeichen der „politischen Korrektheiten“ daherkommt, kann tatsächlich wie eine Moralkeule wirken, die alle offene Diskussion zu erschlagen droht. Aber der rechthaberische Tabubruch, wie ihn Grass und Walser praktizieren, ist nicht das richtige Gegenmittel, weil er nur einen neuen Dogmatismus und Moralismus schafft. Hilfreicher kann der spielerische und humorvolle Tabubruch sein, vor allem aber die Bereitschaft, sich auf ein wirklich offenes, aber auch rücksichtsvolles und verständnisvolles Gespräch einzulassen. Gerade über die Nachwirkungen des Holocaust darf man nur mit einer gewissen Einfühlungsbereitschaft sprechen und nicht mit dem Holzhammer wie Grass.

Grass‘ Kritiker argumentieren verstärkt mit dem psychologischen Begriff der Verdrängung.  Halten Sie das als Sozialpsychologe für angemessen, politische Äußerungen auf (sozial)psychologische Dispositionen zurückzuführen?

Wenn Sie damit meinen, politische Äußerungen sollten auf (sozial)psychologische Dispositionen reduziert werden, halte ich das für falsch. Das ist aber auch nicht das Ziel der Sozialpsychologie. Allerdings haben alle individuellen und alle sozialen Lebensäußerungen immer auch eine (sozial)psychologische Dimension. Und insofern halte ich es für sehr notwendig und gerechtfertigt, psychologische Argumente auch in politische Diskussionen einzubeziehen. Sozialpsychologie kann also zur Erhellung politischer Argumente und Positionen beitragen.

Das Interview führte Dr. Dirk Frank, Pressereferent der Goethe-Universität