Forschungsprojekt: Hermeneutik und Ethik der Interpretation Heiliger Schriften

Prof. Dr. Francesca Yardenit Albertini, Prof. Dr. Stefan Alkier, Prof. Dr. Ömer Özsoy

Juden, Christen und Muslime beziehen sich in ihren Glaubensaussagen, religiösen Praktiken und ethischen Überzeugungen auf ihnen als heilig geltende Schriften. Für den interreligiösen Dialog scheint das zunächst ein günstiger Ausgangspunkt zu sein: Tanach, Bibel und Koran hängen nicht nur genealogisch eng zusammen, sondern stellen als richtungsweisende, autoritative Texte vor das  gemeinsame Problem, diese Schriften für die jeweilige Gegenwart und kulturelle Situation immer wieder neu interpretieren zu müssen.

Bei näherer Betrachtung gibt diese Gemeinsamkeit aber auch erheblichen Anlass zu Missverständnissen. So verdeckt die Rede von den drei „Buchreligionen“ die markanten Unterschiede der jeweiligen Funktion und des Grundverständnisses der Heiligen Schriften als solche.

Das Forschungsprojekt macht es sich angesichts dieser Problemlage zunächst zur Aufgabe, die religiöse und theologische Funktion und das damit zusammenhängende Grundverständnis der jeweiligen Heiligen Schrift als solche zu formulieren. Dabei soll berücksichtigt werden, dass es auch innerhalb der jeweiligen Religion erhebliche Differenzen nicht nur über das Verständnis einzelner Texte, sondern auch der eigenen Heiligen Schrift bzw. Schriften als solche gibt.

Sodann soll mittels der formalen Theorie kategorialer Semiotik (Theorie der Zeichen und Zeichenprozesse) im Anschluss an Charles Sanders Peirce der Versuch unternommen werden, die gemeinsamen semiotischen Grundbedingungen jeglichen Verstehens mit Blick auf die Unhintergehbarkeit der Interpretation Heiliger Schriften zu formulieren. Schließlich sollen daraus Grundlagen einer interreligiösen Ethik der Interpretation Heiliger Schriften entwickelt werden, die sowohl den allgemeinen semiotischen Bedingungen jeder Zeichenverwendung, als auch den spezifischen religiösen und hermeneutischen Traditionen Rechnung tragend Kriterien für die je eigene Interpretation und für den Umgang mit der Interpretation anderer erstellt.

Ziel des Forschungsprojektes ist es, mit Hilfe einer differenzierenden Hermeneutik und Ethik der Interpretation Heiliger Schriften den interreligiösen Dialog der drei monotheistischen Weltreligionen auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen und damit einen Beitrag zu einer friedlichen Streitkultur eines qualifizierten Pluralismus zu leisten. Das illusorische Ideal einer universalen Menschheitsreligion, in der die Unterschiede der Religionen nachgeordneten Charakter hätten, wird abgelehnt. Vielmehr setzt das Projekt auf einen Dialog der Verschiedenen, die ihre Überzeugungen und Wahrheitsansprüche offen und argumentativ in den Dialog einbringen. Die ethische Minimalanforderung für dieses Dialog ist es, dem anderen dieselbe Aufrichtigkeit der Wahrheitssuche bzw. der Suche nach dem Guten zuzugestehen, wie sie für sich selbst in Anspruch genommen wird. Das Gelingen eines solchen Dialoges führte nicht zu einer synkretistischen Einheitsreligion, sondern zu einer Lerngemeinschaft der Religionen, die ihre spezifischen Traditionen dialogisch in die Weltgemeinschaft einzubringen in der Lage wären.