Projekt »Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten«

2000–2002

Das Projekt war Teil des Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) "Lesesozialisation in der Mediengesellschaft".
Nähere Informationen zum Programm sowie zu daraus entstandenen Veröffentlichungen siehe auf dessen Homepage (rechts).

ProjektmitarbeiterInnen

  • Prof. Dr. Cornelia Rosebrock (Leitung)
  • Dr. Irene Pieper (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I)
  • Heike Wirthwein (pädagogische Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I)
  • Steffen Volz (Projektmitarbeiter)
  • Dr. Olga Zitzelsberger (Projektmitarbeiterin)
  • Katrin Kollmeyer (wissenschaftliche Hilfskraft)
  • Daniel Scherf (wissenschaftliche Hilfskraft)

Projektbeschreibung

Im Rahmen der explorativen Studie "Was bleibt?" erhoben wir "Spuren des schulischen Literaturunterrichts in der Medienpraxis und Lesegeschichte 17- bis 18-jähriger HauptschulabsolventInnen". Die Untersuchung wendet sich damit einem Bildungssegment zu, das in der Lesesozialisationsforschung bislang kaum Beachtung erfahren hat, besonders im Anschluss an die PISA-Studie aber in den Brennpunkt der bildungspolitischen Diskussion gerückt ist: Die Hauptschule im großstädtischen Raum gilt als "Restschule". Der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist besonders hoch. Viele SchülerInnen entstammen darüber hinaus sozial schwachen Milieus. Die Risikogruppe, die PISA in Hinblick auf die Lesekompetenz ausweist, setzt sich zum überwiegenden Teil aus HauptschülerInnen zusammen. Die Untersuchung folgt Methoden der qualitativen Sozialforschung und ermöglicht einen vertieften Einblick in Genese und Praxis der Mediennutzung ehemaliger HauptschülerInnen im großstädtischen Raum. Ziel des Vorhaben war es, mit dem Mittel exemplarischer Fallstudien Kriterien zur Bestimmung des Entwicklungsverlaufs, der Qualität und der biografischen Funktionen der Lektürepraxen von HauptschulabsolventInnen insbesondere im Blick auf deren Abhängigkeit von schulischen Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Das Projekt hatte explorativen Charakter; d.h., es sollte ein Verständnis von den alltäglichen Funktionen der Lektüre und deren Genese bei ehemaligen HauptschülerInnen erst eröffnen. Zugrunde lag ein sozialisatorisches Konzept des Erwerbs von Lesemotivation, von Lesekompetenz und von Fähigkeiten im Umgang mit Lesestoffen und Medien, das seinerseits die Einbettung der Leseaktivitäten in größere Kontexte (psychischer, lebensweltlicher, medientechnischer und historischer Art) implizierte.

Nach einer Vorstudie, innerhalb derer 8 LehrerInnen als ExpertInnen befragt wurden, führte die Gruppe 30 leitfadengestützte narrative Interviews mit AbsolventInnen durch, die durch drei Perspektiven bestimmt waren: In individuell-synchroner Perpektive wurden Umfang, inhaltliche Ausrichtung und Funktion des Lesens im Kontext der gesamten Mediennutzung erhoben. In individuell-diachroner Perspektive wurde nach der Genese dieser Praxis und ihrer lebensgeschichtlichen Einbettung gefragt. Ein dritter Bereich galt der Rolle institutioneller Literaturvermittlung durch die Schule. Die Interviews wurden vollständig transkribiert und in der Arbeitsgruppe inhaltsanalytisch ausgewertet. Auf der Grundlage der Interviews wurde ein Kategoriensystem generiert. Die einzelnen Fälle machten im folgenden Vergleich zentrale Themen und Problemfelder sichtbar, die mit Hilfe computergestützter Auswertungsverfahren fallübergreifend bearbeitet wurden. Systematisch erhoben wurden außerdem einige Hintergrundinformationen, so das Herkunftsland der Interviewten und ihrer Eltern sowie deren Schulabschlüsse.

Die Studie beleuchtet die Rolle des Lesens im Leben von AbsolventInnen, die in der Regel gemischt kultureller Herkunft sind, deren Familiensprache selten Deutsch, öfter Arabisch und Deutsch, Türkisch und Deutsch, Russisch und Deutsch oder auschließlich Italienisch oder eine andere Sprache der sogenannten Anwerberländer ist. Die AbsolventInnen wachsen darüber hinaus in der Regel in lese- bzw. bildungsfernen Umgebungen auf und verfügen kaum über frühkindliche oder kindliche Erfahrungen mit Literatur. Lesen, gar literarisches Lesen, so zeigen die Ergebnisse, begreifen die ehemaligen HauptschülerInnen vielfach als eine Tätigkeit für „die anderen“ und missachten dabei selbst vorhandene eigene Lesepraxen wie etwa das Zeitungs- oder Zeitschriftenlesen. Andere Medien, besonders das Fernsehen, beherrschen das Bild. Bei der großen Mehrheit der Befragten ist Lesen kein Element des Lebensstils. Auch zum symbolischen Ausdruck der Lebensführung gehört diese kulturelle Praxis in der Regel nicht. Die Studie erhärtet zudem den seit PISA immer wieder ausgesprochenen Verdacht, dass auch die Lesekompetenz der AbsolventInnen in Hinblick auf eine befriedigende Lebensführung in einer modernen Gesellschaft westlicher Prägung unterentwickelt ist. Die AbsolventInnen entbehren damit weitgehend eines bedeutsamen kulturellen Kapitals und sind von entsprechenden gesellschaftlichen Partizipations- und Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten.

Selten begegnet das Lesen als aktuelle biographisch relevante Praxis. Dann allerdings steht es in aufschlussreichem Zusammenhang mit gegenwärtigen anschlusskommunikativen Kontexten. Auch Impulse des schulischen Deutschunterrichts kommen nur bei den wenigen LeserInnen im Sample zum Tragen. Hier deuten sich Möglichkeiten der institutionellen Intervention an.<(p>

Publikationen aus dem Zusammenhang des ForschungsprojektsMonographie:

  • Pieper, Irene; Rosebrock, Cornelia; Volz, Steffen; Wirthwein, Heike (2004): Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten. Lektüre und Mediengebrauch von HauptschülerInnen. Weinheim, München: Juventa (Reihe Lesesozialsation und Medien).

Aufsätze:

  • Pieper, Irene; Wirthwein, Heike (2003): "Ich bin kein Typ, der gern liest." - Werdegänge von Nicht-Lesern. In: Friedrich-Reihe Schüler. Heft: Lesen und Schreiben. 16-19.
  • Pieper, Irene (2003): Die Medien als "Kulturträger"? Zur Mediennutzung Frankfurter HauptschulabsolventInnen mit Migrationshintergrund. In: Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht, 31, 5–24.
  • Pieper, Irene; Wirthwein, Heike (2002): Das Problem des Lesens. Zur Medienpraxis Jugendlicher mit niedrigem Bildungsabschluss. In:Lesezeichen, 11 (Mitteilungen des Lesezentrums der Pädagogischen Hochschule Heidelberg), 33–59.
  • Pieper, Irene; Wirthwein, Heike; Zitzelsberger, Olga (2002): Schlüssel zum Tor der Zukunft? Zur Lesepraxis Frankfurter HauptschulabsolventInnen. In: Didaktik Deutsch, 13/2002, 33-49.
  • Pieper, Irene; Rosebrock, Cornelia (2004): Geschlechtsspezifische Kommunikationsmuster und Leseverhalten am Beispiel der Lektüre bildungsferner Jugendlicher. SPIEL, 23(1), 63–69, 2004.
  • Rosebrock, Cornelia; Zitzelsberger, Olga: (2002) Der Begriff Medienkompetenz als Zielperspektive im Diskurs der Pädagogik und Didaktik. In: Groeben, Norbert; Hurrelmann, Bettina: Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim; München: Juventa. 148–160.
  • Rosebrock, Cornelia (2003): Wege zur Lesekompetenz. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien, 55, Heft 2, 85–95.
  • Rosebrock, Cornelia (2003): Lesesozialisation und Leseförderung; literarisches Leben in der Schule. In: Michael Kämper-van den Boogaart (Hrsg.), Deutschdidaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II, (S. 153–174). Berlin: Cornelsen Scriptor, 2003.
  • Rosebrock, Cornelia (2004): Informelle Lesesozialisationsinstanz Peer-Group. In: Groeben, Norbert; Hurrelmann, Bettina (Hrsg.),Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick, (S. 250–280). München; Weinheim: Juventa, 2004.
  • Wirthwein, Heike (2003): "Bücher hatten uns vorher nicht so interessiert". Die Vorbildwirkung von Lehrenden als Lesende. Friedrich-Reihe Schüler. Heft: Lesen und Schreiben. 70-71.