Ein römisches Gebäude in Kelsterbach, Kreis Groß-Gerau

Lehrgrabung 2004 und 2005

Im Sommer 2004 und Frühjahr 2005 konnte die Abteilung mit finanzieller und ideeller Unterstützung des Volksbildungswerkes und der Stadt Kelsterbach eine Lehrgrabung auf dem Gelände einer vermuteten villa rustica durchführen. Der Anfang der 1970er Jahre durch römische Lesefunde entdeckte Platz im Nordosten der Gemarkung wurde 2001 und 2003 durch die Firma Posselt und Zickgraf geophysikalisch prospektiert. Mit dem kombinierten Einsatz der drei gängigsten geophysikalischen Meßmethoden (Magnetik, Elektrik und Radar) gelang es, einen 10 x 18 m großen Steinbau zu erfassen, in dessen Nordhälfte offensichtlich ein Brunnen eingebaut war (Abb. 1). Da weitere Gebäude im Umfeld nicht sicher nachzuweisen waren, scheint das Gebäude der Zentral­bau eines vielleicht als „Kleinvilla“ anzusprechenden Anwesens gewesen zu sein.

Derartige Plätze bilden nach neueren Forschungen zur römischen Siedlungs­archäologie die Mehrzahl der ländlichen Anwesen im rechtsrheinischen Teil der Provinz Germania superior. Wie diese kleinen Gehöfte organisiert waren und welche Aufgaben sie übernahmen, ist zur Zeit jedoch noch weitgehend unklar. Diskutiert werden u. a. die Funktionen als Straßenstationen oder als von Pächtern bewirtschaftete Vorwerke größerer Gutshöfe. Die Masse dieser „Kleinvillen“ mit einer geschätzten Hoffläche unter 1 ha ist bisher aus Luft­bildern oder von Scherbenaufsammlungen auf Äckern bekannt, nur wenige Anlagen sind zum Teil, geschweige denn ganz ergraben.

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Abb. 1: Ansicht von Nor­den.

 
Abb. 2: Blick in den Brun­nen, am Boden Hirsch­geweih.

Die Untersuchung derartiger kleiner, ländlicher Anwesen stellt also ein dringendes Desiderat der Provinzial­römischen Forschung dar, weshalb die Abteilung II des Instituts für Archäologische Wissenschaften die Gelegenheit gerne nutze, eine durch Stadt und Volksbildungswerk Kelsterbach finanzierte Lehrgrabung am besagten Steinbau durchzuführen. Neben einer Fortführung des schon länger am Institut etablierten Schwerpunktes „Siedlungsarchäologie in Südhessen“ bestand zugleich die Möglichkeit, die bereits erhobenen geophysikalischen Daten mit denen der Ausgrabung zu konfrontieren. Dazu wurde das auf einer flachen Sanddüne innerhalb der Altmainniederung stehende Steingebäude komplett freigelegt.

Von dem Steingebäude waren nur die breiten Fundamente aus trocken gesetzten Bachwacken, Kies und sekundär verwendetem Dachziegelbruch erhalten, die bereits 20 cm unter der heutigen Ackeroberfläche begannen. In der Gegenüberstellung von Georadarbild und Grabungsplan zeigt sich gerade für die römischen Fundamente eine außerordentlich hohe Übereinstimmung. Bei leichten Böden und einer geringen Tiefe der Befunde ermöglicht das Georadar also eine hervorragende Detektion von steinernen Befunden wie Mauern, die einem auf konventionellen Wege angelegten Grabungsplanum kaum nachsteht.

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Abb. 3: Brunnen mit Kult­grube.


Abb. 4: Querschnitt durch
den Brunnen.

Die massiven Fundamente und einige Scherben Fensterglas sprechen dafür, dass es sich um ein regelhaftes Gebäude handelte und nicht nur um einen geschlossenen Hof mit innen liegendem Brunnen. Nach einem schon vor Jahren herausgepflügten Türangelstein scheint der Eingang des Gebäudes auf der südlichen Giebelfront gelegen zu haben. Einige gelochte Schindeln aus der Versturzschicht des Brunnens bezeugen eine zumindest partienweise Dacheindeckung aus Schieferplatten. Vom Brunnen und einer daneben liegenden Grube abgesehen, sind kaum Befunde aus dem Inneren des Gebäudes erhalten. Ein U-förmiger Auswaschungshorizont mit zahlreichen Holzkohlepartikeln war der letzte Rest einer Herdstelle, die an der Mitte der Ostwand lag. Außerhalb des Gebäudes lagen zwei kleine Gruben, von denen eine auch vom Georadar erfasst wurde. Im Gegensatz zu dem deutlichen Radarbild setzte sich die Grube im archäologischen Befund kaum vom umgebenden Boden ab. Warum der Kontrast in der Geophysik so deutlich ausfiel, soll eine bodenkundlich-mineralogische Detailuntersuchung klären.

Durch einige Scherben Terra sigillata aus dem Mauerfundamenten kann das Baudatum auf 200/220 n. Chr. festgelegt werden. Die Kelsterbacher Anlage fällt damit in die letzte Blütephase der rechtsrheinischen Besiedlung, als die ländlichen Anwesen endgültig in Stein um- bzw. ausgebaut wurden. Im Gegensatz zu den meisten dieser villae rusticae ist in Kelsterbach jedoch kein Vorgängerbau nachzuweisen. Vielmehr deuten die keramischen Funde gerade auf eine besonders intensive Siedlungstätigkeit in den Jahrzehnten ab 230 n. Chr., bevor sich römisches Heer und Verwaltung um 260/265 n.Chr. wieder entgültig auf die linksrheinischen Gebiete zurückzogen.

Eine zentrale Rolle für die Interpretation des Gebäudes spielt natürlich der Brunnen. Ist schon die Lage des Brunnens innerhalb des Hauses ungewöhnlich, so sind die Funde aus dem Brunnen und einer direkt daneben liegenden Grube umso bemerkenswerter. Der Boden der knapp 30 cm tiefen und 2,5 x 3,2 m großen Grube war mit stark glänzendem Glimmergestein ausgelegt, so dass der Eindruck eines ‚goldenen Bodens’ entstand. Bei der Aufgabe des Gebäudes um 260 n. Chr. wurden ca. 15 Keramikgefäße bewusst zerschlagen und jeweils nur ein Teil davon in der Grube niedergelegt (pars pro toto). Am Rand der Grube hatte man zuvor nur die Hälfte eines absichtlich zerbrochenen keltischen Armreifs deponiert. Über den Gefäßresten fanden sich die Reste von Hirschextremitäten und der Schädel eines Fohlens.

Der knapp 5 m tiefe Brunnen bestand aus sekundär verwendeten Kalkstein­handquadern. Sein Steinkranz war ohne einen hölzernen Brunnenkasten direkt auf den anstehenden Kies gegründet worden. Bei der Aufgabe des Gebäudes um 260 n. Chr. wurden hier in 3,5 – 4,5 m Tiefe drei komplette Hirschgeweihe von kapitalen 14- bis 16-Endern und drei einzelne Geweihstangen deponiert. Zwei der Geweihe hatte man derart angeordnet, dass sie eine Art Ring bildeten. Die Geweihe lagen in einer Schicht mit hohem organischen Anteil, vermutlich Pflanzenresten. Darüber wurde der Brunnenschacht mit Abbruch­schutt und Abfällen verfüllt und geschlossen.

Die ungewöhnlichen Funde und Befunde legen es nahe, den Brunnen und die benachbarte Grube als Einheit zu sehen. Doch wie sind die Befunde zu interpretieren? Wegen der fehlenden Bearbeitungsspuren waren die Geweihe sicher keine Werkstücke einer Bein- und Hornschnitzerei. Ebenso scheint die Deutung als reine Jagdtrophäen zu kurz zu greifen, nicht zuletzt wegen der Verlochung der Stücke im Brunnen. Am ehesten wird man die Geweihe wohl mit einem kultischen Ritual in Verbindung bringen können, dessen Ablauf und erhoffte Wirkung heute nicht mehr ohne weiteres zu erschließen sind. Der Hirsch spielte bereits im keltischen Kulturraum eine wichtige Rolle in einigen Kulten, von denen der des hirschgeweihtragenden Gottes „Cernunnos“ nur der bekannteste ist. In der römischen Welt galt der Hirsch als Symbol für Fruchtbar­keit und lange Lebensdauer, was u.a. an den zahlreich gefundenen Hirschge­weihamuletten mit Phallussymbol sichtbar wird.

Auffälligerweise gibt es gerade im Rhein-Main-Gebiet einige Parallelen zur Situation in Kelsterbach. So fanden sich in einem Brunnenschacht bei Wiesbaden-Schierstein mehrere Hirschgeweihreste zusammen mit einer steinernen Jupitergigantensäule, darunter auch ein in einer Nische abgelegtes und sorgfältig mit Schieferplatten umstelltes Geweihstück.

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Abb. 5: Hirschgeweih im
Brunnen.

 
Abb. 6: Geophysikalische
Prospektionen:
A–Geomagnetik
B–Geoelektrik
C–Georadar
D–Umzeichnung
(Firma PZP GbR).

Größere Teile oder komplette Hirschgeweihe sind auch aus Brunnen von Frankfurt am Main-Schwanheim und Obernburg bekannt, in beiden Fällen ebenfalls mit steinernen Götterdenkmälern vermischt.

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Abb. 7: Rekonstruktions­vorschlag (M. Fricke).


Abb. 8: Zerschlagene Ge­fäße.

Alle diese Befunde stehen im direkten Zusammenhang mit dem Auflassen der Siedlungsstellen ab 260 n. Chr., nachdem die rechtsrheinischen Teile der Provinz Germania superior von der römischen Verwaltung aufgegeben waren. Geht man von dem auffälligen Kelsterbacher Grubenbefund mit seinem „goldenen Boden“ aus, dürfte der mit den Geweihen verbundene Ritus bereits fester Bestandteil einer wie auch immer gearteten Kultpraxis im Alltag der hiesigen römischen Landbevölkerung gewesen sein, bevor den Hirsch­geweihen auch bei der Aufgabe von lokalen Kultplätzen sowie der rituellen Beisetzung der zurückbleibenden Götterdenkmäler eine magische Rolle zukam.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Interpretation der Kelsterbacher Anlage: Handelte es sich um eine der oben beschriebenen Kleinvillen, vielleicht mit einem privaten Kultraum, oder müssen wir das Gebäude von Kelsterbach gar als reinen Kultbau ansprechen? Hier wird erst die Aufarbeitung des gesamten Fundmaterials und eine genaue Grundrissanalyse weiterführen.

Der Brunnen soll als beredtes Beispiel der hochstehenden römischen Inge­nieurskunst konserviert und als Freilicht-Denkmal im Rahmen der Rhein-Main-Regionalparkroute erhalten werden. Die Funde sind bis 15.12.2005 in der Ausstellung ‚Schätze aus der Erde – Ein römisches Gebäude in Kelsterbach’ im Heimatmuseum Kelsterbach, Marktsraße 11, 65451 Kelsterbach, zu sehen (Öffnungszeiten So. 14–17 Uhr, Mi. 17–19 Uhr).

Literatur:

  • S. Roscher, Spuren aus Kelsterbachs Vergangenheit. Von der Altsteinzeit bis ins Mittelalter. Heimatkundliche Beiträge zur Geschichte von Kelsterbach 14 (Horb am Neckar 1990) 56–63.
  • H. Blaum/M. Posselt, Die zerstörungsfreie Detektion eines römischen Steinbaus samt Brunnen in Kelsterbach. hessenARCHÄOLOGIE 2003 (Stuttgart 2004) 96–98.
  • A. Heising, Hirschkult in Kelsterbach. Das römische Gebäude „Auf der Steinmauer“ und die Interpretation möglicher Kultpraktiken in der Provinz Germania superior (Kelsterbach 2008).