Groß-Gerau, „Auf Esch“: Römischer Vicus und alamannische Siedlung

Die Kreisstadt Groß-Gerau, rund 20 km südöstlich von Mainz gelegen, ist das moderne Zentrum des durch Altläufe von Rhein und Urneckar geprägten Hessischen Rieds. Zwei Kilometer südlich des heutigen Stadt­kerns liegt auf einer hochwasserfreien Flugsandterrasse das Dünengelände „Auf Esch“, das im Süden, Westen und Osten von einem alten Neckarbett umschlossen wird. Das Areal mit seinen Siedlungsspuren vom Neolithikum bis in die Völkerwanderungszeit gilt als eine der fundreichsten archäologischen Stätten Hessens. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem im Vorfeld der Provinzhauptstadt Obergermaniens (Mogontiacum/Mainz) gelegenen römischen Kastell und der angrenzenden zivilen Siedlung zu.

Im Vorgriff auf die geplante Überbauung untersuchten die Außenstelle Darmstadt des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen (1989-1992; 2001), das Saalburgmuseum Bad Homburg (1997) sowie die Abt. II des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt/M. (1998-2000) bisher rund 1,25 ha und somit etwa 10% der römischen Siedlung. Diese Fläche bildet einen der größten zusammenhän­genden, mit Methoden moderner Grabungstechnik untersuchten Komplexe innerhalb eines Kastellvicus in den germanischen Provinzen. Zudem wurden 1997-1998 und 2006 im Auftrag der Universität Frankfurt/M. rund 10 ha des Areals geomagnetisch prospektiert. Die Aufarbeitung der Befunde des Kastellvicus sowie der zivilen Nachfolgesiedlung bis um 260/270 n. Chr. erfolgte im Rahmen der 2005 vorgelegten Dissertation von C. Wenzel an der Abt. II des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Universität Frankfurt a. M. (Betreuer: Prof. Dr. H.-M. von Kaenel/Prof. Dr. S. von Schnurbein). Die Arbeit, die im Jahr 2007 mit dem Eduard Anthes-Preis für Archäologie ausgezeichnet wurde, wird derzeit zum Druck in der Reihe „Frankfur­ter Archäologische Schriften“ vorbereitet. Sie ermöglicht eine detaillierte Rekonstruktion der Be­sied­lungs­ge­schichte Groß-Geraus vom 1.-3. Jahrhundert.

Die erste römische Okkupation markieren die Spitzgräben zweier kurzzeitig besetzter Militärlager, für die eine vorflavische Datierung möglich, aufgrund fehlender Funde aber nicht zu belegen ist. Die Errichtung des Kastells „Auf Esch“ erfolgte im Zusammenhang mit dem Bau der Fernstraße Mainz – Heidelberg-Neuenheim um 75 n. Chr. Der Kern des Vicus entwickelte sich vor der Porta principalis dextra des 1,9 ha großen Kastells zwischen zwei Tangenten der südlich am Kastell vorbeiführenden Fernstraße. Vermutlich in Zusammenhang mit einem Wechsel der im Kastell stationierten Einheit wurde dieses Ende des 1. Jahrhun­derts in Stein ausgebaut. Auch im Lagerdorf lassen sich um 100 n. Chr. umfangreiche Baumaßnahmen fassen. Der Kastellvicus erreichte nun seine größte Ausdehnung und entwickelte sich damit zur größten geschlossenen Siedlung Südhessens.

Die innere Struktur des Vicus konnte in großen Teilen erschlossen werden. Prägende Elemente sind in allen Perioden ein- bis zweigeschossige, giebelständige Fachwerkbauten (Streifenhäuser), die im frühen 3. Jahrhundert durch Gebäude mit Steinfundamenten ersetzt wurden. Die ursprünglich unter Mitwirkung des Militärs erfolgte Grundstückseinteilung wurde auch nach dem Abzug der Truppe beibehalten. Eine obertä­gige Markierung der Parzellengrenzen durch Gräben konnte beobachtet werden. Zudem sind in Groß-Gerau identische Baumodule für die Kernbauten der einzelnen Häuser nachzuweisen. Eine übergeordnete Gliederung erfolgte durch das Zusammenfassen mehrerer Grundstücke zu Parzellenblöcken, die durch Wege oder Freiflächen voneinander getrennt waren. Die Struktur der Bebauung wurde offenbar durch die Bestimmungen einer Bauordnung verbindlich geregelt.

Eine klare Trennung zwischen öffentlich und privat genutzten Bereichen innerhalb des Vicus ist nur bedingt festzustellen. Das Kastellbad ist der einzige bislang bekannte öffentliche Bau des Lagerdorfs. Eine Platz­anlage, wie sie in anderen Vici an zentralen Stellen als Marktort angelegt wurde, konnte nicht zweifelsfrei lokalisiert werden. Die ökonomische Basis des Kastellvicus bildete die Versorgung der Truppe mit Gütern und Dienstleistungen. Töpferöfen belegen die Keramikproduktion am Ort im späten 1. und zu Beginn des 2. Jahrhunderts. Weitere Handwerke (insbesondere Gerberei und Metallverarbeitung) sind sowohl im Kastell­vicus als auch in der Siedlung des 2.-3. Jahrhunderts über Produktionsabfälle oder Halbfabrikate zu erschließen.

Der Abzug der im Kastell stationierten Militäreinheit um 115/120 n. Chr. hatte tiefgreifende Veränderungen in der Bebauungsstruktur des Vicus zur Folge. Auf vielen Grundstücken wurden bestehende Gebäude geräumt; Teile der Bevölkerung wanderten ab. Ab dem 3. Viertel des 2. Jahrhunderts ist eine Neugestaltung des Areals zu beobachten. Zuvor verlassene Parzellen wurden wieder aufgesiedelt, dazu neue Flächen erschlossen. Am Beginn des 3. Jahrhunderts erreichte der Vicus wieder annähernd die Ausdehnung des Lagerdorfs. Die Besiedlung brach nach derzeitigem Kenntnisstand im Verlauf des 3. Viertels des 3. Jahr­hunderts ab. Spuren von Schadensfeuern sind aus einigen Befunden dieser Zeit bekannt; eine flächige Zerstörung der Siedlung ist allerdings nicht zu belegen.

Die Auswertung des aus Befunden des Vicus „Auf Esch“ gewonnenen archäobotanischen und archäo­zoologischen Probenmaterials im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts ergab wichtige Ergeb­nisse zu den Lebensgrundlagen der Bevölkerung und ihrer Umwelt. So ist im Kastellvicus der militärische Einfluss durch den vergleichsweise hohen Anteil von Wildtierknochen und Importfunden (Austern, Makrelen) gekennzeichnet. Nach dem Truppenabzug sind diese Werte in der Siedlung deutlich rückläufig. Für den gesamten Besiedlungszeitraum kann die Haltung von Haustieren auf den Grundstücken des Vicus belegt werden. Die Ergebnisse der archäobotanischen Untersuchungen legen nahe, dass sich auf den rückwärtigen Bereichen der Parzellen Gärten befanden. Mit Beginn der römischen Siedlungstätigkeit wurde die Landwirtschaft im Umfeld Groß-Geraus durch den Import von Pflanzenarten und Zuchttieren gezielt gefördert. Im Lauf des 2. Jahrhunderts hatte sich die römische Landwirtschaft in der Region flächig eta­bliert.

Eine Besiedlungskontinuität im Bereich des Vicus über das 3. Viertel des 3. Jahrhunderts hinaus ist bisher nicht zu belegen. Münzen und Keramik weisen jedoch bereits für die constantinische Zeit auf eine erneute Besiedlung von Teilen des Areals hin. Der Schwerpunkt der Siedlungstätigkeit lag nun jedoch westlich des ehemaligen Vicusgeländes. Dennoch können auch dort Befunde dieser Epoche zugewiesen werden. Beim derzeitigen Stand der Bearbeitung sind keine verlässlichen Aussagen zur Ausdehnung und Struktur der spätantiken Besiedlung der Flur „Auf Esch“ möglich. In deren direktem Umfeld konnten Gräber des 4. Jahr­hunderts nachgewiesen werden.

Die Neusiedler nutzten einen Platz, dessen topographische und strategische Position nach wie vor günstig war. Die Verteilung der spätantiken Befunde auf dem Areal des ehemaligen Vicus von Groß-Gerau scheint dafür zu sprechen, dass gerade die einstmals dicht besiedelten Zonen für die Neuankömmlinge besondere Anziehungskraft besaßen. Die Kleinfunde weisen zumindest einen Teil dieser Bevölkerung als Germanen, vermutlich Alamannen, aus. Eine große Anzahl von Funden römischer Provenienz, darunter neben Keramik auch Militaria und Münzen, lassen darüber hinaus die Anwesenheit romanisierter Gruppen in Groß-Gerau möglich erscheinen. Der Fundniederschlag bricht offenbar am Ende des 4. Jahrhunderts ab. Zu dieser Zeit oder spätestens im frühen 5. Jahrhundert ist mit einem Ende der Besiedlung des Areals „Auf Esch“ zu rechnen.

Die Bearbeitung der spätantiken Befunde und Funde erfolgt derzeit im Rahmen eines von der DFG geför­derten Projekts durch C. Wenzel an der Abt. II des Instituts für Archäologische Wissenschaften der Universität Frankfurt/M. Ziele der systematischen Aufarbeitung sind neben dem Erstellen eines publikations­reifen digitalen Gesamtplans die Rekonstruktion von Entwicklung und Struktur der spätantiken Besiedlung „Auf Esch“ sowie antiquarisch-historische Untersuchungen zur Zusammensetzung der Bevölkerung der Siedlung und ihrer ökonomischen Grundlagen. Dies wird es ermöglichen, die Stellung Groß-Geraus und seines Umland in der Spätantike eingehender zu beleuchten.

Projektleitung:

Prof. Dr. H.- M. v. Kaenel; C. Wenzel M.A.

Literatur:

  • H.- M. von Kaenel/C. Wenzel, Geophysikalische Prospektionen und Grabungen im Kastellvicus von Groß-Ge­rau. Vorbericht über die Tätigkeit in den Jahren 1997-1999. Denkmalpflege und Kulturgeschichte 2/2000, 56-60.
  • C. Wenzel, Groß-Gerau und Nida (Frankfurt/M.-Heddernheim) – Zu Genese, Struktur und Entwicklung der Kastellvici im obergermanischen Limesgebiet. In: M. Reddé/L. Dubois/D. Briquel/H. Lavagne/F. Queyrel (Hrsg.), La naissance de la ville dans l’Antiquité (Paris 2003) 271-284.
  • C. Wenzel (mit S. Deschler-Erb), Linsensuppe und Austern - Ökonomie und Ernährung im römischen Vicus von Groß-Gerau. Arch. Inf. 28/1, 2005 (2006), 61-69.
  • C. Wenzel (mit J. Dolata), Die Ziegelstempel aus dem Kastellbad von Groß-Gerau. Denkmalpfl. u. Kulturgesch. Hessen 4/2007, 21-24.
  • C. Wenzel, Märkte, Bäder, Reihenhäuser. Arch. Deutschland 1/2008, 22-25.
  • C. Wenzel, Groß-Gerau I. Der römische Vicus von Groß-Gerau, „Auf Esch“: Baubefunde des Kastell­vicus und der Siedlung des 2.-3. Jahrhunderts. Frankfurter Archäologische Schriften 9 (Bonn 2009).
  • M. Helfert, Groß-Gerau II. Die römischen Töpfereien von Groß-Gerau, „Auf Esch“: Archäologische und archäometrische Untersuchungen zur Keramikproduktion im Kastellvicus. Frankfurter Archäologische Schriften 11 (Bonn 2010).