Das Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Johann Wolfgang
Goethe-Universität in Frankfurt am Main trauert um Ray-Güde Mertin. Mit
ihr verlieren wir eine Kollegin, die seit 1984 als Lehrbeauftragte und
seit 1996 als Honorarprofessorin in den Bereichen der Lusitanistik, der
Hispanistik und der Übersetzungswissenschaft Einmaliges leistete und die
Studierenden für die Literatur Brasiliens, Portugals, Hispanoamerikas
und Spaniens nachhaltig begeisterte.
Das wissenschaftliche Interesse Ray-Güde Mertins richtete sich
hauptsächlich auf die brasilianische Gegenwartsliteratur, wobei sie
Fragen wie die Präsenz der afrikanischen Kultur in Brasilien in den
Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellte. Ein weiterer Schwerpunkt
war die Entstehung und Entwicklung der Stadtliteratur in Brasilien. Die
von Horst Baader in Köln betreute und als "opus eximium" bewertete
Dissertation ist dem Roman A Pedra do Reino des Professors für Ästhetik
Ariano Suassuna gewidmet. Methodische Genauigkeit und interpretative
Sensibilität zeichnen auch die Aufsätze, Kommentare, Nachworte, Vorträge
und Rezensionen aus, die Ray-Güde Mertin über lusophone und hispanophone
Literatur verfaßt hat. Die Vermittlung dieser Literatur in den
deutschsprachigen Kulturraum ist eine Kunst, die ein hohes Maß an
theoretischem und kulturgeschichtlichem Wissen erfordert, sowie die
Fähigkeit, das Eigentümliche dieser Literaturen zu erfassen und zu
formulieren. Ob es sich um Machado de Assis, João Ubaldo Ribeiro,
António Tôrres, Euclides da Cunha, den Nobelpreisträger José Saramago
oder einen anderen der zahllosen Autoren handelt, über die Ray-Güde
Mertin geschrieben hat, immer wird der Leser gefesselt von der
Anschaulichkeit und Präzision der Darstellung.
Dass Ray-Güde Mertin eine der erfolgreichsten literarischen
Übersetzerinnen aus dem Portugiesischen und dem Spanischen werden
konnte, erklärt sich zweifelsfrei aus ihrem wissenschaftlich exakten
Vorgehen. Wer in der Lage ist, Romane von Clarice Lispector, Ignácio de
Loyola Brandão, João Ubaldo Ribeiro, António Lobo Antunes oder Agustina
Bessa-Luis zu übertragen, muß über methodische Strenge,
kulturhistorisches Wissen, Ausdauer, Fleiß und großes Talent verfügen.
Die von ihr übersetzten Romane sind bei führenden literarischen Verlagen
wie Suhrkamp, Hanser, Kiepenheuer & Witsch oder Piper erschienen. Eine
wichtige Komponente ihrer Übersetzertätigkeit ist die theoretische und
methodische Reflexion. Ray-Güde Mertin hielt regelmäßig Vorträge über
die Problematik des Übersetzens und leitete eine ganze Reihe von
Übersetzertreffen (z.B. im Europäischen Übersetzerkollegium Straelen)
und Wochenendworkshops für Übersetzer.
Als sie nach achtjährigem Aufenthalt in São Paulo und nach fünf Jahren
in New York 1982 nach Deutschland zurückkehrte, machte sie sich als
Literaturagentin für Schriftsteller aus Brasilien, Portugal, dem
lusophonen Afrika, aus Hispanoamerika und aus Spanien selbständig. Ihr
Ziel war nicht der rasche Vertragsabschluss, sondern der lebendige
Kulturaustausch. Seit 1982 arrangierte, übersetzte und moderierte sie
eine nicht abreißende Serie von Lesungen, Lesereisen und Präsentationen
lusophoner und hispanophoner Autoren - in den Literaturhäusern von
Frankfurt, Hamburg und Berlin, im Berliner Haus der Kulturen der Welt,
im Kulturprogramm der Stadt Köln, in Wien, Salzburg, München, Duisburg
oder Bad Homburg. Hervorzuheben sind ihr Beitrag zu den Internationalen
Literaturtagen in Erlangen und die Vorbereitung und Mitgestaltung des
literarischen Programms mehrerer Frankfurter Buchmessen (besonders der
Brasilien-Buchmesse 1994). Schließlich war Ray-Güde Mertin durch ihre
Mitarbeit in zahlreichen kulturellen Organisationen und Institutionen
immer präsent, wenn es um die Vermittlung portugiesisch- und
spanischsprachiger Literatur ging.
Von diesen Aktivitäten und Verbindungen hat das Institut für Romanische
Sprachen und Literaturen seit 1984 laufend profitiert. Fast alle der von
Ray-Güde Mertin betreuten Autoren haben in unserer Universität
vorgetragen, gelesen und mit den Studierenden diskutiert, darunter auch
José Saramago, der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1998, den
sie als Agentin vertreten hat. Ray-Güde Mertin hat durch ihre
Vielseitigkeit als Wissenschaftlerin, Literaturkritikerin,
Literaturagentin, Kulturmanagerin, Übersetzerin und Moderatorin die
akademische mit der literarisch-kulturellen Praxis verbunden. Wo sie
auftrat, wehte ein frischer Wind, herrschte Begeisterung für die
Literatur, begannen die Texte zu leben und die Autoren Loblieder zu
singen auf ihre ebenso tüchtige wie hinreißend charmante Freundin. Die
gesamte deutsche Romanistik hat eine unersetzliche und unvergessliche
Kollegin verloren.
Prof. Dr. Karsten Garscha