Mareike Reinwald

Sünde und Sündenbewusstsein. Sündenerkenntnistheorie in protestantisch-theologischer Tradition

In der gegenwärtigen dogmatisch-hamartiologischen Diskussion wird immer wieder, und zu Recht moniert, dass der moderne Mensch kein Sündenbewusstsein und kein Verständnis mehr für die Zentralstellung des theologischen Begriffs der Sünde hat. Die sich angesichts dieser Diagnose aufdrängenden, genuin systematisch-theologischen, genauer auf die Möglichkeitsbedingungen und Prozesse von Sündenerkenntnis zielenden Fragen bleiben allerdings meist unthematisiert. Diese lauten: Vollzieht sich Sündenerkenntnis im Medium des Glaubens oder/und der Vernunft? Gibt es bestimmte Wege und Grade von Sündenerkenntnis? Ist der Erkenntnisgrund der Sünde das Gesetz und/oder das Evangelium? Welche Sünden (peccatum originale oder/und peccata actualia) werden jeweils erkannt? Und vor allem: In welchem Verhältnis stehen Sünde und Sündenerkenntnis? Gehört es zum Sünder-Sein des Menschen, seine Sünde nicht zu erkennen? Ist es das Wesen oder die Seinsweise der Sünde, nicht erkennbar zu sein?

Die gegenwärtige schlicht fehlende oder zumindest randständige Thematisierung derartiger Fragen ist umso erstaunlicher, als dem aufmerksamen Leser nicht entgehen kann, dass das Thema Sündenerkenntnis bei den bzw. einigen ‚klassischen‘ Autoren protestantischer Provenienz durchaus differenziert und kontrovers behandelt wird. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen möchte das Dissertationsprojekt in Auseinandersetzung mit ausgewählten Sündenerkenntniskonzepten der evangelischen Tradition (vor allem Luther, Kierkegaard, Barth und Pannenberg) zu einem dogmatisch reflektierten Verständnis von Sündenerkenntnis im Sinne einer ‚Sündenerkenntnistheorie’ gelangen. Dabei verbindet sich mit dem Arbeitsvorhaben nicht nur das Ziel, das auch von der Sekundärliteratur vernachlässigte Thema der protestantischen Tradition aus seinem ‚Schattendasein’ zu befreien und die angesichts des vielbeklagten Mangels an Sündenbewusstsein sich stellenden sündenerkenntnistheoretischen Fragen zu klären. Die historisch gründliche Bearbeitung des Themas zielt vielmehr zugleich auf eine Plausibilisierung der systematischen Hypothese, dass die Frage nach der Erkenntnis von Sünde zu einem grundlegenden Verständnis dessen, was Sünde an sich ist, beitragen kann – dass Sündenerkenntnisreflexion also gleichsam ins Herz der Sündensemantik vorstößt: Nichts, so die Leithypothese, kann Sünde sein, was nicht als solche unerkannt, zumindest geleugnet bleibt.

--- Kontakt ---

mareike.reinwald[et]uni-due.de

---- vita ----

Geboren in Dortmund, wohnhaft in Essen