von Lea Herrmann (Fotos: Frank Estelmann)

 

„Les mitrailleuses sont postées. L'ennemi à abattre: les combattants français… Le Drachenhöhle vient de naître, et le sang coule déjà.” (Internetauftritt des Museums. Darstellung der Geschichte der Drachenhöhle während des Ersten Weltkriegs)

 

Das Museum der sogenannten Drachenhöhle (Caverne du Dragon) versucht dem Besucher eine authentische Erfahrung davon zu vermitteln, wie das Leben des einfachen Frontsoldaten ausgesehen hat. Die „enfer vécu par les Poilus et par ceux d'en face“ soll nachempfunden werden. Mit dieser Prämisse wird auf der Internetseite des Museums geworben. Die Bezeichnung des Frontalltags während des Ersten Weltkriegs als „Hölle“ liegt aus einem heutigen Blickwinkel nahe. Die Drachenhöhle als Erinnerungsort dient an dieser Stelle als Garant der Wahrheit für diese Interpretation des Ersten Weltkriegs. Das subjektive Empfinden des Poilu wird somit objektiviert: es ist eine Hölle gewesen und deshalb wird diese vom Besucher als solche nachempfunden. Dennoch stellt sich mir die Frage inwiefern dies einem Verstehen der Geschehnisse dienlich ist. Kann wohlige Gänsehaut und leichtes Erschauern beim Gedanken an die „Hölle“ der Frontsoldaten künftige Konflikte verhindern, oder glaubt man sich als Besucher schon viel weiter in seiner Entwicklung? Entsteht vielleicht gerade dadurch eine Distanz zwischen dem Soldaten von damals und uns in unserer scheinbaren Überlegenheit und Aufgeklärtheit? Im Folgenden werde ich unseren Besuch der Caverne du Dragon mit der dazugehörigen Führung darstellen.

In der Ferne ist das leise Donnern einschlagender Bomben und  in unregelmäßigen Abständen das metallische Geräusch eines Spatens zu hören. Wir befinden uns mitten im Kampfgetümmel (Combat) des Ersten Weltkriegs, in einem rekonstruierten Schützengraben vor dem Eingang der Drachenhöhle. Die Führerin betont die Echtheit der verstreut platzierten Objekte, die von überallher zusammengetragen wurden, und beschreibt die Lebensnotwendigkeit des Grabens für die Frontsoldaten. Anschließend führt sie uns mit einer Taschenlampe hinab in die nur diffus beleuchtete Höhle. Die hier herrschenden 12 °C bei hoher Luftfeuchtigkeit und der unebene staubige Boden lassen den Besucher mitleidig an die Bedingungen denken, unter denen die Soldaten oftmals monatelang unter Tage gelebt haben. Der ehemalige Steinbruch bot den Kämpfern dennoch nicht nur wertvollen Unterschlupf, sondern von hier aus konnten auch Überraschungsangriffe auf den Chemin des Dames vorgenommen werden. Somit stellte die Caverne du Dragon einen militärstrategisch sehr wichtigen Ort dar. Schon im Jahr 1915 von den Deutschen  erobert, konnten die französischen Soldaten 1917 Teile der Höhle besetzen. Im Anschluss daran entstand eine Situation, die unsere Führerin ein wenig euphemistisch mit „cohabitation“ benennt. Dieses 'Zusammenleben' der befeindeten Parteien erfolgte jedoch innerhalb klarer Grenzen, die den Frontverlauf widerspiegelten. Der Krieg wurde unter Tage in einem eigenen Universum weitergeführt, auch das macht die Caverne du Dragon als Gedenkort an den Ersten Weltkrieg so interessant. Mit der Gruppe dringen wir tiefer in die Höhle ein.

Die gewundenen Gänge und das Fehlen jeglichen Tageslichts führen zu einem allmählichen Orientierungsverlust. Während in den ersten beiden großzügig angelegten Räumen noch zahlreiche Bilder- und Texttafeln dem Besucher zur Verfügung stehen, werden nun langsam die Decken niedriger und Tafeln rar. Stattdessen sind einige staubige Spiegel aufgestellt. Beim Vorübergehen blickt man in sein eigenes Gesicht, staubverschmiert und die Augen, ob der ungewohnten Erscheinung, schreckgeweitet. Währenddessen erklärt die Führerin, dass die Soldaten viel trinken mussten, da Angst sehr durstig mache. Sich zu waschen wäre also eine Verschwendung kostbaren Trinkwassers gewesen. Betroffenheit macht sich unter denjenigen breit, die vorher auf die Frage nach dem Zweck einer kleinen, mit Wasser gefüllten Wanne geantwortet hatten, diese sei zur Körperhygiene benutzt worden. Das Alltagsleben der Soldaten wird verdeutlicht, die angespannte Langeweile, das Warten (Attente) auf die Ablösung. In den anschließenden Räumen wird dem Besucher erlaubt ein bisschen Distanz zu gewinnen, indem der Weg über Brücken führt und nun von oben einen Blick auf die Ausstellung bietet: Mehrere auf Stäben aufgereihte Soldatenhelme, von flackerndem Licht illuminiert, erlauben somit eine  orts- und zeitunabhängige Interpretation der Geschehnisse.

Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht einerseits das bereits Gesehene zu verarbeiten und andererseits auch den Sprung in die Gegenwart durch die abstrakte Installation. Die Führerin fokussiert jedoch ihre Erläuterungen auf die Waffen des Ersten Weltkriegs und deren Schlagkraft. Gerade der Aspekt der Waffen findet beim Publikum große Resonanz. Im Frühjahr 1917 versuchte die französische Armee unter dem Kommando von General Nivelle den Chemin des Dames zu erobern. Diese Offensive scheiterte und forderte das Leben mehrerer tausend Soldaten. In Folge dessen kam es verstärkt zu Befehlsverweigerungen und Meutereien in der französischen Armee, die nicht unbedingt Teil des offiziellen französischen, nationalen Mythos sind. Auch während der Führung werden die Befehlsverweigerungen zwar angesprochen, aber Nivelle im gleichen Atemzug durch seinen Erfolg in Verdun verteidigt. Die Erschießungen pour l’exemple, also um ein Exempel zu statuieren, verharmlost die Museumsführerin, indem sie deren absolute Zahl nennt, ohne ihre Bedeutung für das Verständnis des Ersten Weltkriegs klar zu machen. 'Nur' 27 Soldaten wurden standrechtlich erschossen. Die Führung endet in einem bunkerartigen Raum vor einer Uhr, die die Uhrzeit des Waffenstillstands festhält. Relève – endlich ist die Ablösung gekommen und der Krieg wird hoffentlich der letzte der letzten (la der des ders) sein. Aufatmend streben alle Besucher die Stahltreppe nach oben, dem Tageslicht und der Wärme entgegen.

Das am Eingang der Ausstellung präsentierte Triptychon „Combat, Attente, Relève“ kann als Mantra der Soldaten während des Ersten Weltkriegs gelten. Eine stets sich selbst erfüllende Prophezeiung, die erst durch den Waffenstillstand 1918 beendet wurde. Will man Walter Benjamin folgen so ist das Gedächtnis der Schauplatz der Vergangenheit, nicht ein Instrument zu ihrer Erkundung. Somit gibt es keine objektive Geschichte, da das Gedächtnis immer etwas Subjektives bleibt.

Das Museum in der Caverne du Dragon versucht den Krieg in seiner Unerbittlichkeit und Grausamkeit zu zeigen, Raum und Objekte dienen in ihrer Authentizität als Beweis für diese Interpretation. Dennoch wird von einer rein nationalistischen Darstellung abgesehen und eher eine europäische Perspektive eingenommen. Der Chemin des Dames steht damit exemplarisch für einen Ort, an dem Deutsche, Briten und Franzosen gemeinsam gestorben sind und derer Toten nun auch gemeinsam gedacht werden sollte. Die Führerin spricht am Ende des Besuchs das „devoir de mémoire“, also die Pflicht eines jeden, den Ersten Weltkrieg nicht zu vergessen. Eine Darstellung der Geschichte, die eigenen Interpretationen Raum lässt, wird allerdings im Museum der Caverne du Dragon hauptsächlich einem Event-Tourismus geopfert. Fast hofft man, noch Blutflecken von echten Soldaten an den Wänden zu entdecken, um den eigenen Voyeurismus zu befriedigen. Alles in allem waren Führung und Ausstellung nicht so reißerisch gestaltet, wie es sich nach Besuch der Internetseite der Caverne du Dragon hätte vermuten lassen. Immer wieder wurde an manchen Stellen doch noch Luft gelassen und Zeit gegeben, das Gesehene zu verarbeiten.