Pressereaktionen auf das Internationale Kästner Symposion

  • Heinrich Kaulen: Spuren (FREITAG 10)
  • Monika Osberghaus: Berlin liegt in Afrika (FAZ, 23.02.1999)

Heinrich Kaulen

Spuren

Nachdenken über Deutschland - Weltweite Resonanz auf Erich Kästner

     

Erich Kästner, hierzulande oft nur bei Gedenktagen geschätzt, ist seit langem ein internationaler Klassiker. Das gilt auch für den Kinderautor Kästner, dessen weltweite Wirkung den Vergleich mit Autoren wie Carroll, Kipling oder Lindgren nicht scheuen muß. Diese erstaunliche Resonanz hat ihre Gründe. Denn Kästner gelang nicht nur das Kunststück, einen Bogen von der Erwachsenenliteratur zur Kinderliteratur zu schlagen. Er lieferte auch der Weimarer Demokratie ein zeitgemäßes Kinderbild, das Kindern das Recht auf Autonomie zuerkannte, garniert mit einer Prise mal frecher, mal moderater Gesellschaftskritik. Das kam schon Ende der zwanziger Jahre international an und blieb auch nach 1945 weltweit aktuell, zumal es der Autor von Anfang an verstand, diese Bücher mit Theateraufführungen und Verfilmungen im Medienverbund zu präsentieren. In vielen Ländern gilt Kästner bis heute daher primär als Verfasser von Kinderromanen, während seine Lyrik und Prosa für Erwachsene so gut wie unbekannt sind.

Wie weit das Echo auf sein Werk reicht, zeigte eine Tagung, die anläßlich des 100. Geburtstages auf Initiative von Hans-Heino Ewers und des von ihm geleiteten Instituts für Jugendbuchforschung in Frankfurt stattfand. Diese Wirkung erstreckt sich keineswegs allein auf Westeuropa. Ein starkes Echo fand der Autor vielmehr auch dort, wo sich deutsche Einwanderer niedergelassen hatten und mit dem Bild des Dichters zugleich eine Erinnerung an ihre eigene Kindheit bewahrten: in den USA beispielsweise, aber auch im fernen Australien, in der Gegend um Adelaide, oder in Israel. Aus Jerusalem berichtete Michael Dak von seinen Kindheitserlebnissen mit Kästner sowie den Erfahrungen, die er heute als Übersetzer des Werkes ins Hebräische macht. Denn in Israel - und nicht nur dort - haben die schrecklichen Vorgänge der deutschen Geschichte im Umgang mit Kästner ihre Spuren hinterlassen. Zwar wurde er kurz nach der Shoah schon wieder gedruckt, jedoch nur, weil er als Figur des innerdeutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus galt und viele Emigranten mit ihm das Bild eines besseren Deutschlands verbanden. Dabei mußten aber alle Erinnerungen an Deutschland, an die Berliner Schauplätze der Kinderromane und selbst an deutsche Eigennamen, die als anstößig galten, lange Zeit ausgelöscht werden, indem man die Handlung kurzerhand in ein anderes Land verlegte. Erst heute, fünf Jahrzehnte später, können in der von Dak verantworteten Neuübersetzung diese Spuren der deutschen Geschichte wieder sichtbar gemacht werden.

Eine große Rolle spielt Kästner nach wie vor auch im Deutschunterricht sowohl unserer europäischen Nachbarländer als auch außerhalb Europas. In Spanien, Ungarn, Griechenland und in der Türkei sind es seine Kinder- und Jugendromane, die den Heranwachsenden beim Erlernen der deutschen Sprache oft das allererste Bild von den Lebensverhältnissen in Deutschland vermitteln. Daß das nicht immer ohne Reibungsverluste abgeht, zeigte Nuran Özyer aus Ankara. Denn das Deutschland der Gegenwart ist nicht mehr das der Weimarer Zeit, und die Alltagserfahrungen, die viel Ausländer hierzulande machen, decken sich allzuoft leider nicht mit den menschlichen Verhaltensweisen der Kästnerschen Romanhelden.

Die Aufnahme eines fremdsprachigen Autors in einer anderen Kultur ist stets eine komplizierte Vermittlung zwischen dem Selbstbild vom eigenen und dem Fremdbild des anderen Landes. Beides sind künstliche Konstrukte, ohne daß dies den Beteiligten meist hinreichend bewußt wäre. Wenn in den USA sich die Filmindustrie des Disneykonzerns der Kästnerromane bemächtigt und sie in immer wieder neuen Remakes erfolgreich verniedlicht, dann hat das, wie Luke Springman aus Bloomsburg demonstrierte, mehr mit den kulturellen Rahmenbedingung dort als mit den ursprünglichen Intentionen des Werkes zu tun. Es gibt aber auch Fälle, wo Kästners Werk auch nach dem Tod des Autors noch seine kritische Virulenz bewahrt hat. So wurde seine "Schule der Diktatoren" zur Zeit des Obristenregimes in Griechenland als politische Anklage gelesen, und in Osteuropa paßt er, wie in der DDR der fünfziger Jahre, lange Zeit entweder gar nicht ins Konzept oder aber wurde, wie etwa in Ungarn, als heimlicher Widerpart zu der verordneten sozialistischen Erziehung aufgefaßt.

Bücher, auch Kinderromane, haben ihre Geschichte, und oft eine andere, als den staatlichen Literaturverwaltern gerade lieb ist. Auf solche Wechselfälle der Wirkungsgeschichte Kästners aufmerksam gemacht zu haben, ist das größte Verdienst der Frankfurter Tagung.

(Quelle: FREITAG 10, 5. März 1999)


Berlin liegt in Afrika

Emil und die Übersetzer: Ein internationales Kästner-Symposion

     

Als im Jahr 1936 "Emil und die Detektive" von den Nazis verboten wurde, schrieb Erich Kästner einen Brief an die Reichsschrifttumskammer: "Besonders schmerzlich berührt mich die Maßnahme, weil sie ein Buch trifft, das ... als ein ausgesprochen deutsches Buch angesehen wird; ein Buch, das in über dreißig fremde Sprachen übersetzt wurde, um den Kindern anderer Länder eine Vorstellung vom Kameradschaftsgeist und dem Familiensinn des deutschen Kindes zu vermitteln; ein Buch, das in den englischen, amerikanischen, polnischen und holländischen Schulen mit Hilfe von kommentierten Schulausgaben dazu verwendet wird, um die deutsche Sprache und Verständnis für das deutsche Wesen zu lehren!"

An dem Verbreitungsverbot änderte diese Eingabe nichts. Seine Kinderbuchfiguren aber wurden in der ganzen Welt bekannt. Allen voran marschiert "Emil", der bis heute siebenundfünfzigmal übersetzt wurde, gefolgt von "Pünktchen und Anton", den Pennälern aus dem "Fliegenden Klassenzimmer" und später dem "Doppelten Lottchen". Aber wie "deutsch" sind sie wirklich, wenn sie im Ausland angekommen sind? Hält ihr Erfolg an? Auf Einladung des Frankfurter Instituts für Jugendbuchforschung trafen sich in der vergangenen Woche Literaturwissenschaftler und Übersetzer zu einem internationalen Symposion, um den Blick auf den Kinderbuchautor Kästner aus dem Ausland zu ergänzen.

Die Komparatistin Emer O'Sullivan berichtete von den Schwierigkeiten, denen der Kästner-Übersetzer gegenübersteht. Dabei wurde deutlich, warum vor allem "Emil" wiederholt in ein und dieselbe Sprache übersetzt wurde. Man steht bei diesem Buch sowohl vor einem Orts- als auch vor einem Zeitproblem. Um die Leser nicht zu irritieren, transportierten manche Übersetzer die Handlung in die Hauptstadt ihres eigenen Landes. Der schwedische Übersetzer von 1932 siedelt sie in Stockholm an, ohne sie aber dem neuen Ort anzupassen. Die schwedischen Kinder lasen von einem Stockholm, das es nicht gab: weitläufig, verwirrend und glitzernd, mit einer ihnen unbekannten U-Bahn. Der Illustrator dieser Ausgabe fing das Mißverständnis ein wenig auf, indem er weniger Menschen, dafür mehr Bäume und Wolken zeichnete als Walter Trier. Auch die Ausgabe in Kisuaheli aus dem Jahr 1973 versucht das Problem mit der Lokalität durch die Bilder abzuschwächen. Der Text erzählt von Berlin, die Zeichnungen dazu zeigen aftrikanische Kinder.

Die wirkliche Schwierigkeit liegt jedoch nicht darin, daß Emil den Dieb in Berlin verfolgt, sondern daß er die Jagd in den zwanziger Jahren aufnimmt. Und nicht die zwanziger Jahre sträuben sich der Übersetzung, sondern die Haltung aus der heraus Kästner sie präsentiert. In seinen frühen Kinderbüchern wird der Jargon der damaligen Zeit gesprochen: die Sprache ist forsch, sachlich, kernig. "Quatsch nicht, Krause!" - solche Sprüche wie der von Gustav mit der Hupe sind griffiger als alle Dialekte.

Offenbar ist es keinem Übersetzer gelungen, diesen Ton in einer anderen Sprache lebendig werden zu lassen. In England hätte man einen so robusten Umgangston erst erfinden müssen. Die Kindergeschichten dort waren noch überwiegend in Phantasiegefilden angesiedelt. Gustav mit der Hupe ist in der britischen Übersetzung von 1931 ein ausgesprochen höflicher Junge. Die amerikanische Übersetzerin konnte sich an der Sprache der beliebten dime novels orientieren und Biß hineinbringen. Die französischen Übersetzer dagegen mochten keine Frechheiten. Sie fühlten den strengen Blick der Académie francaise auf sich ruhen und strichen dem vorlauten Pünktchen sämtliche Pointen. Heute ist es zwar auch bei Übersetzungen von Kinderliteratur üblich, originalgetreu vorzugehen. jedoch sind die Leser so weit von der damaligen Zeit entfernt, daß sie für eine Ausgabe, die dem Originaltext gerecht wird, ein Glossar brauchen.

Es gibt viele Qualitäten, die Kästner in anderen Ländern lange leben ließen. Abgesehen davon, daß seine Geschichten so viele unterschiedliche Facetten haben, daß bei der Übersetzung ohne Not die eine oder andere davon verlorengehen kann, war Kästner ein Botschafter der deutschen Kultur, wenn auch nicht so, wie es die Nazis gerne gesehen hätten und wie es in seinem Brief anklingt.

Das gilt besonders für Israel. Zohar Shavit von der Universität Tel Aviv berichtete von zwei großen Wellen der Kästner-Rezeption. Die erste, die bis 1933 dauerte, hatte weniger mit ihm zu tun als mit der Tatsache, daß man sich in Israel für die deutsche Literatur interessierte - fast die Hälfte der ins Hebräisch übersetzten Bücher kam aus Deutschland. Da war es selbstverständlich, daß Kästners vielbeachteter "Fabian" sofort auf hebräisch vorlag, gefolgt von seinen Kinderbüchern. Die zweite Welle setzte kurz nach dem Krieg ein: Ab 1947 war "Emil" in Israel wieder auf dem Markt vorhanden, allerdings in einer Fassung, aus der alle Anklänge an Deutschland entfert waren. Berlin wurde zur "großen Stadt", die Spree zu einem namenlosen Fluß, und Gustav mit der Hupe hieß Absalom. Im "doppelten Lottchen", das bald darauf erschien, kam der eine Zwilling aus Zürich statt aus München.

Kästners Beliebtheit läßt sich, so Shavit, darauf zurückführen, daß man in ihm den "guten Deutschen" sehen wollte. Dafür unterschlug man in biographischen Hinweisen, daß Kästner Deutschland während des Dritten Reiches nicht verlassen hatte. Statt dessen wurde hervorgehoben, daß er zu den Dichtern gehörte, deren Bücher verbrannt worden waren. Eine Rezensentin dichtete die von ihm beschriebenen Szene, in der er der Verbrennung seiner eigenen Bücher beiwohnt, weiter und rückte ihn in die Nähe der Emigranten: "Und danach wurde er in Deutschland nicht mehr gesehen." Eine schlüssige Erklärung für diese teilweise blinde Zuneigung stellte Michael Dak, der derzeitig Neuübersetzer Kästners ins Hebräische, zur Diskussion: Als der einzige in Israel bekannte lebende deutsche Kinderbuchautor bildete Kästner eine Brücke zwischen dem alten Deutschland der Weimarer Republik und den Überlebenden des Holocaust, die seine Bücher aus ihrer Kindheit kannten und froh über eine helle, harmlose Erinnerung waren.

In der Türkei wurde Kästner, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, ebenfalls als Deutscher geschätzt, und auch hier hat dies etwas mit dem Verhältnis der Bevölkerung zu den Deutschen zu tun. "Er hat bei uns eine gute Heimat", faßte der Instanbuler Germanist Turgay Kurultay seine Beobachtungen zusammen. Kästners Kinderromane werden von linken Intellektuellen als emanzipatorische Literatur eingeschätzt. Überdies ist Emils Großstadterfahrung für viele türkische Kinder Gegenwart. Der Zeitsprung ist für sie nicht so groß. Vor allem aber heitert Kästner das strenge Bild auf, das sich viele Türken von den Deutschen machen. Emil, Anton und all die anderen sind im Gegensatz zum gängigen Deutschen-Stereotyp gastfreundlich, hilfsbereit, witzig und warmherzig.

Ob Kästners Kinderbücher übersetzbar sind und ob sie überleben werden, sind offenbar zwei grundverschiedene Fragen. Zu bestimmten Zeiten haben ihnen auch die kuriosesten Übersetzungen wenig anhaben können. Heute, da sich die Standards der kinderliterarischen Übersetzungspraxis denen der Allgemeinliteratur angepaßt haben, scheint Kästners Stern am Kinderbuchhimmel langsam unterzugehen. Kinder lesen ihn im Ausland kaum noch, zumindest nicht freiwillig. Es gibt Schulausgaben mit Vokabelhilfen und Glossar, und wenn ein Deutschseminar der Universität in der Nähe ist, halten die Buchhandlungen für alle Fälle ein paar "Emils" vorrätig.

Auch in Deutschland scheinen die wirklich begeisterten Kinderbuchleser Kästners eher die zu sein, die schon Lachfältchen haben. Das ist nicht verwunderlich. Kästner war ein entschiedener Zeitgenosse der Kinder, für die er schrieb. Ihnen wollte er einimpfen, daß die Welt in ihren Händen liegt. Die Zeitgenossenschaft war seine Stärke; er selbst bezeichnete sich ausdrücklich als Gebrauchsautor. Wenn man ihn als solchen bewahren will, wird man ihn verändern müssen. Die Übersetzer haben sich diese Freiheit immer wieder genommen. In Deutschland kann Kästner nur in andere Vermittlungsformen übersetzt werden, so wie es die neue Verfilmung von "Pünktchen und Anton" vormacht. Dort lebt der Kästner für Kinder heute auf.

MONIKA OSBERGHAUS
(Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.1999)