Empirische Befunde inklusive Unterrichtens - Waldorfpädagogische Beiträge

Buchveröffentlichung

Handwerk, Hanne (2019): Inklusion als Ausdrucksgestalt. Rekonstruktive Inklusionsforschung an Freien Waldorfschulen. 1. Auflage 2020. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.


Abstract zum Projekt

I. Forschungsfrage
Wie kann Inklusion in der Schule gelingen? Was steht der Realisierungeiner „Schule für alle“ i. S. derUN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entgegen? Die vorliegende Arbeit untersucht die Anfänge inklusionspädagogischer Praxis von Schule und Unterricht und bezieht die dabei auftretenden Probleme und Dilemmata auf die Antinomie von Inklusion und Selektion.
(Inklusion wird hier aufgefasst im Sinne eines Prozesses, in dem die Antinomie einer für jeden Menschen konstitutiven Bildungsfähigkeit auf der einen und die systembedingte Selektion auf der anderen Seite sukzessive aufgehoben werden soll. Dies impliziert, dass die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler generell anerkannt und respektiert sowie eine auf FörderungallerHeranwachsenden zielende Schul- und Unterrichtsstruktur angesteuert wird. 2Sisti-Wyss, E. in: Moser, V. (Hg), (2012), Die inklusive Schule, Stuttgart, S. 77-81)

Durchgeführt wird die Studie an Freien Waldorfschulen mit der These, dass diese Antinomie hier aus drei Gründen zurücktreten könnte:
1. aufgrund der geringeren Abhängigkeit von bürokratischen Rahmenbedingungen durch die freie Trägerschaft,
2. des prinzipiell ganzheitlichen Bildungskonzepts der Waldorfpädagogik (Menschenbild),
3. des für Waldorf-Förderschulen wie allgemeine Waldorfschulengemeinsame Curriculums.
Rekonstruiert werden konkrete Erfahrungen von Lernenden und Lehrenden zu Beginn eines Prozesses zu einer inklusiven Unterrichts- und Schulkultur. Der Fokus der Untersuchung liegt auf den Ebenen:

  • Rahmenbedingungen
  • Perspektive Schüler_innen
  • Perspektive Lehrperson und Unterricht

II. Ziel
Die Studie will einen Beitrag leisten zurArbeit von Schulen mit inklusionspädagogischem Ansatzgenerell. Die Ergebnisse sind zunächst von allgemeinem Interesse, für die Weiterentwicklung des pädagogischen Konzepts von Freien Waldorfschulen jedoch von erheblicher Bedeutung. Der Gewinn der Untersuchung ist nach mehreren Richtungen hin zu sehen:

  • Weiterführung deserziehungswissenschaftlichen Diskurseshinsichtlich struktureller und pädagogischer Voraussetzungen von Inklusion
  • Beitrag zu Fragen derLehrerbildung
  • Beitrag zurbildungspolitischen Neu-Orientierung
  • Beitrag zur Diskussionpädagogischer Prioritätensetzungbei der Schulentwicklung
  • Beitrag zur Entwicklung von Inklusionskonzepten Freier Waldorfschulen

III. Vorgehen
Im ersten Schritt wird die aktuelle Situation der am Projekt beteiligten Schulen rekonstruiert und ihre Sinn- und Bedeutungsstruktur herausgearbeitet.
Im zweiten Schritt werden individuelle Veränderungen der Lernenden und Lehrenden infolge von inklusiven Unterrichtspraktiken aufgezeigt und mit dem pädagogischen Konzept sowie der Kultur der betreffenden Schule in Beziehung gesetzt. Prozesse des Lernens, der Selbstbildung und Sozialität von Heranwachsenden werden gezeigt, ihre Struktur herausgearbeitet und in einen Erklärungszusammenhang gebracht.
Folgende Teilziele werden differenziert:

1. Deutungsmuster und Haltungen
2. Lern- und Bildungsprozesse
3. Sozialität: Nähe und Distanz

IV. Forschungsfeld
Die Untersuchung wird an insgesamt drei Freien Waldorfschulen durchgeführt, die sich hinsichtlich eines inklusionspädagogischen Ansatzes alle noch im Prozess befinden. Gemäß der Kategorisierung von Sisti-Wyss2wäre Schule A auf Stufe 1 des Inklusionsprozesses anzusiedeln; Schule B hingegen ist eine explizit inklusive Waldorfschule mit fünf ausgewiesenen Förderschüler_innen pro Klasse; Schule C ist eine ältere Institution, die nur in Ausnahmefällen Inklusionsschüler aufweist.

V. Material
Beobachtungsprotokolle des Unterrichts und von Konferenzen sowie Interviews
Transkripte der Audio- bzw. audiovisuellen Aufnahmen von Interaktionen der schulischen

Akteure innerhalb und außerhalb des Unterrichts sowie von Konferenzen
  • Transkripte nicht standardisierter Einzel- und Gruppen-Interviews mit Schüler_innen und Lehrpersonen
  • Schriftliche Dokumente
VI. Methodologie und methodische Zugänge
Zielsetzung sowie Differenzierung der Fragestellung zu den in Punkt III dargestellten Teilzielen erfordern eine offene Forschungsstrategie, d. h. ein nicht standardisiertes Erhebungs- und rekonstruktionslogisches Auswertungsverfahren. Daher folgte die Entscheidung für zwei einander ergänzende methodische Zugänge:

Methodischer Zugang 1:
Materiale Analyse der erhobenen Daten (Unterrichtsaufnahmen, Interviews, Konferenzen etc.) entsprechend der Methode und Methodologie der objektiven Hermeneutik nach Oevermann mit dem Ziel, die Strukturlogik der einzelnen Fälle zu rekonstruieren, deren subjektiven Sinn sowie verallgemeinerbare Ergebnisse und Erklärungsansätze herauszuarbeiten;
(Oevermann, U., Konzeptualisierung von Anwendungsmöglichkeiten und praktischen Arbeitsfeldern der objektiven Hermeneutik, (Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung), unveröffentlichtes Manuskript, März 1996; ders. in: Katzenbach, Steenbuck (Hg) (2000), Piaget und die EW heute, Frankfurt/Main; ders. (2008) in: Helsper, W. et al (Hg), Pädagogische Professionalität, Frankfurt/Main)

Methodischer Zugang 2:
Methodisch kontrollierte Formen der Protokollierung im Rahmen von Unterrichtsbesuchen, Konferenzen sowie von Interviews und Expertengesprächen, um alle Aspekte der handelnden Akteure möglichst vollständig einfangen zu können. Systematische Feldnotizen werden bei Bedarf das andere Datenmaterial ergänzen.

VII. Zeitplan
Die Untersuchung ist auf ca. drei Jahre projektiert. Die Feldphase hat Anfang des Jahres 2013 begonnen; am 31. Dezember 2015 soll das Projekt nach Möglichkeit abgeschlossen sein.

1. Arbeitsschwerpunkt während der Erhebungsphase in den beiden ersten Jahren werden sowohl empirische als auch analytische Tätigkeiten sein, die weitgehend synchron durchgeführt werden. Geplant sind etwa drei Unterrichtshospitationen mit Aufnahmen pro Schuljahr, d. h. drei im Frühjahr des Schuljahres 12/13 sowie drei im Herbst und drei im Frühjahr des Schuljahres 13/14. Zusätzlich werden Einzel- oder auch Gruppeninterviews mit Schüler_innen sowie Experteninterviews geführt und thematisch relevante Konferenzen aufgenommen.
Entsprechend den beiden methodischen Zugängen und um die notwendige Güte des Materials zu sichern, werden die aufgezeichneten Interviews, Unterrichtshospitationen und Konferenzen von der Projektleiterin selbst transkribiert. Feldnotizen werden zu Beobachtungsprotokollen zusammengefasst.

2. Sämtliche erhobenen Daten werden zunächst gesichtet und dem thematischem Schwerpunkt entsprechend ausgewählt sowie in seiner Aussagekraft für die Forschungsfrage gewichtet. Dieser Teil des Materials wird in Forschungsgruppen am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt interpretiert und anschließend in Form von Einzelfallanalysen rekonstruiert. Das dritte Jahr ist der methodischen Ausarbeitung der Einzelfallanalysen, ihrer Strukturgesetzlichkeit sowie einer zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse in Form eines schriftlichen Abschlussberichtes vorbehalten.

3. Erste Teilergebnisse der Studie können voraussichtlich ab Ende des dritten Halbjahres (etwa Anfang 2014) auf Tagungen und Workshops vorgestellt werden, der Abschlussbericht soll mit dem Ende des projektierten Zeitraums, d. h. Ende 2015/ Anfang 2016 vorliegen.

Dr. Hanne Handwerk Bad Soden, Februar 2014