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"Um Himmels willen nicht vom Materiellen ablenken": Die Philosophie Siegfried Kracauers – im Spiegel ihres Religionsbegriffs

Forschungsprojekt zur Promotion von Ansgar Martins:


Das Projekt zielt auf eine Rekonstruktion und Diskussion religiöser und "theologischer" Motive und Gegenstände im Werk des deutsch-jüdischen Schriftstellers Siegfried Kracauer (1889-1966). Momentan sind vier Kapitel geplant: I) Kracauers Reflexionen zu Judentum und Antisemitismus, II) Kracauers kritische Theorie der messianisch-apokalyptischen Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg, III) Kracauers Rolle in und sein Beitrag zu der materialistisch-theologischen Diskussion zwischen Benjamin, Adorno, Bloch usw. IV) Kracauers Spätwerk als Fortführung und Verfall dieser Diskussion und ihrer historischen Voraussetzungen.

Einen Schwerpunkt des Projekts bildet Kracauers Diskussion mit dem Umkreis des „Freien Jüdischen Lehrhauses“ um Martin Buber und Franz Rosenzweig sowie mit Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal als Repräsentanten der Kritischen Theorie. Im polemischen Diskurs mit allen Genannten sowie etwa Margarete Susman, Walter Benjamin (und später Ernst Bloch) entfaltete Kracauer nach 1920 die immer wieder neu justierten Ansätze einer materialistisch-theologischen Geschichtsphilosophie, die sich durch sein weiteres Werk zieht. Die verschiedenen Wirkungsfelder des Architekten, Journalisten, Romanciers, Soziologen, Geschichtsphilosophen und Filmtheoretikers enthalten keine ausformulierte Religionsphilosophie. Ausgangspunkt der Dissertation ist allerdings die These, dass eine religiöse bzw. geschichtsmetaphysische Zeitdiagnose ein immer wieder neu gefasstes Zentrum seines Denkens darstellt, von der aus sich die facettenreichen Wirkungsfelder historisch und systematisch erschließen lassen. Letztendlich bleibt Kracauer dabei jedoch immer in der Rolle des "Wartenden", des widerwilligen Zweiflers. "Ökonomie statt expliziter Theologie! [...] Erst die Empörung in den Regionen des Materiellen, dann die Kontemplation, die um Himmels willen nicht vom Materiellen ablenken darf." (Kracauer: Zwei Arten der Mitteilung, 1929)

Kracauer geht im Anschluss an Georg Lukács Theorie des Romans (1916) zunächst von einer ideologisch ausbeutbaren „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der modernen Menschheit aus, die nur in ihrer eigenen Sprache bezeichnet werden kann: Negativistisch soll durch die Kritik des Vorletzten, die sinnliche und gesellschaftliche Realität, der "Hohlraum" für Transzendenz freigehalten werden, gegen die sich die Moderne verselbstständigt habe. Von dieser Position des kritischen "Wartenden" entspringt Kracauers Polemik gegen die religiösen und esoterischen Erneuerungsbewegungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Die "Obdachlosigkeit" wird schließlich in den proto-faschistischen Keimzellen der "Angestellten" und der Jugendbewegung erkannt. Auch Jahrzehnte später im New Yorker Exil, wenn Kracauers ideologiekritisch-materialistische Thesen sich längst verflüchtigt haben, bringt diese normative geschichtsphilosophische Fixierung seine Thesen zum Klingen: Er impliziert eine meditative Achtsamkeit für eine verborgene göttliche Ordnung der Dinge: „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“ (so der Untertitel von Kracauers Theory of  Film). Die vergessenen „kleinsten Fakten“ müssen gesammelt werden, weil „nichts verloren gehen soll“. Diese „Empfänglichkeit ... für das sprachlose Plädoyer der Toten“ nennt Kracauer in seinem Buch History: The Last Things Before the Last ein „theologisches“ Argument. Die Entfaltung dieses Grundmotivs soll an der ganzen Textbasis seiner Schriften und unter Einbeziehung von Archivmaterial untersucht werden. Schließlich ist zu prüfen, wie weit die anti-systematische Philosophie Kracauers sich durch die Herausarbeitung dieser Haltepunkte argumentativ ausschärfen lässt. So scheint der mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno geteilte Fokus auf die „Mikrologie“, auf kleinste Phänomene, bei Kracauer kaum untersuchte ethische Implikationen zu bergen, die sich in seiner Reflexion des Exils entwickelten. Der früh antisemitisch Ausgegrenzte und Verfolgte entwarf eine Positionsbestimmung der „Exterritorialität“. Kracauers Entwurf einer solchen reflexiven Einsamkeit des Intellektuellen vereint biographische Erfahrung und sein Programm einer kontemplativen, das Einzelne würdigenden Philosophie.


Ansprechpartner am Fachbereich: Ansgar Martins und Prof. Christian Wiese

Laufzeit: 2016-2022