Trude Simonsohn im Gespräch

Vielen Dank, dass Sie uns dieses Interview geben. Zunächst würde ich gerne auf ihre Beziehung zur Stadt Frankfurt zu sprechen kommen. Was hat den Ausschlag für Sie gegeben, nach Frankfurt zu ziehen?

Das war weder meine, noch die Entscheidung meines Mannes. Er hat die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland reanimiert, die wie alle anderen Bundesangelegenheiten damals in Frankfurt angesiedelt sein musste. So sind wir von Hamburg 1955 nach Frankfurt gezogen.

Bei welchen Organisationen haben Sie sich dann in Frankfurt engagiert?

Zunächst habe ich mein Engagement bei der Women’s International Zionist Organisation (WIZO), für die ich schon in Hamburg tätig war, in Frankfurt fortgesetzt. Später habe ich auch Verantwortung in der Sozialarbeit der Jüdischen Gemeinde übernommen, deren Gemeinderatsvorsitzende ich dann von 1989 bis 2001 war.

Wann hat denn ihre Tätigkeit als Zeitzeugin begonnen?

Das erste Mal habe ich über mein Schicksal als Überlebende 1978 vor Schülerinnen und Schülern der Anne-Frank-Schule berichtet. Ich habe so etwas vorher noch nie gemacht, aber ich komme aus der zionistischen Jugendbewegung, in der immer diskutiert wurde, also habe ich dort auch gesprochen. Ich hatte keine Ahnung, ob ich das schaffen werde.

Hat es für Sie anfangs eine große Überwindung dargestellt, über das zu sprechen, was Ihnen widerfahren ist?

Ich verdanke es meinem Mann, dass es mir nicht sehr schwer gefallen ist. Als wir uns nach der Befreiung – was ein Wunder war – beide als Überlebende wiedergefunden haben, hat er gesagt, dass wir es nur schaffen könnten, wenn wir über das sprechen, was uns widerfahren ist. Für öffentliche Auftritte habe ich mich nie selber angeboten, aber als es an mich herangetragen wurde, habe ich gerne gesprochen. Und ich habe von Anfang an das Gefühl gehabt, dass ich das den Toten schuldig bin.

Welche Erfahrungen haben Sie denn mit den Schülerinnen und Schülern gemacht?

Weil ich nur in Klassen gegangen bin, in denen mein Besuch gründlich von den Lehrerinnen und Lehrern vorbereitet wurde, habe ich viele positive Erfahrungen gemacht. Das ist auch kein Kunststück, wenn Sie bedenken, dass die Lehrerinnen und Lehrer ja vorher schon ungefähr einschätzen konnten, wie ihre Klassen reagieren.

Eine schlechte Erfahrung musste ich einmal machen, als ich in eine unvorbereitete Klasse gegangen bin. Dort bin ich mit sehr verletzenden Fragen konfrontiert worden, dass ich ja gar nicht gefoltert worden sei und so weiter. Danach habe ich mir geschworen, nie wieder in unvorbereitete Klasse zu gehen. Unabhängig davon ist es aber so, dass die, die es am meisten nötig hatten, mich gar nicht eingeladen haben.

Haben Sie denn eine Veränderung wahrgenommen in der Reaktion der Kinder in den vergangenen Jahren?

Ja, absolut. Die ersten Schüler, die ich hatte, haben sich bitter über ihre Eltern und Großeltern beschwert, weil die nicht mit ihnen über die Vergangenheit sprechen wollten. Ich erinnere mich an einen Jungen, der gesagt hat, dass er die Nase so voll habe, dass er sich jetzt selbst Bücher kaufen und sich informieren wolle. Das hat sich geändert, weil es ja jetzt eine andere Generation ist. Also jetzt ist es so, dass die Großeltern der Schülerinnen und Schüler nicht mehr die Nazizeit erlebt haben.

Wie schlägt sich das denn nieder in den Reaktionen der Schüler? Ist Ihnen auch schon so etwas entgegengekommen wie ein gewisses Desinteresse?

Nein. Nie. Im Gegenteil erlebe ich oft, dass die Kinder und auch erwachsene Gäste bei Vorträgen und Diskussionen immer wieder sagen, dass sie das Gefühl haben, dass ich immer genau dort sei, von wo oder wann ich gerade erzähle. Das freut mich wirklich, denn wenn ich ehrlich bin, kann ich gar nicht anders, als mich immer wieder dorthin zu versetzen, wenn ich erzähle.

Was ich außerdem immer wieder erlebe ist, dass die Kinder nach dem Gespräch zu mir kommen und sagen, dass sie sich das alles nicht vorstellen könnten. Da bringe ich großes Verständnis auf und sage, dass ich es mir auch nicht hätte vorstellen können, wenn ich es nicht erlebt hätte. Unsere Seele ist für so etwas nicht eingerichtet.

Haben Sie denn das Gefühl, dass es in Deutschland mittlerweile so etwas wie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Holocaust gibt?

Die Schülerinnen und Schüler, mit denen ich in der Nachkriegszeit gesprochen habe, haben sehr wenig von ihren Eltern erfahren. Und das zieht sich auch durch die folgenden Generationen. Dieses Verschweigen, das ist eigentlich bis heute so geblieben. Ich habe dann mit der Zeit festgestellt, dass das Aufarbeiten der Vergangenheit nicht unbedingt mit dem Holocaust zusammenhängt. Es hat vielmehr für jeden Einzelnen mit seiner eigenen Biographie zu tun. Jeder Einzelne, der etwas falsch gemacht hat und das nicht aufarbeitet, macht es schlimmer. Wenn zwei Leute – um ein sehr einfaches Beispiel zu geben – sich geliebt haben und heiraten und dann so sehr streiten, dass sie auseinander gehen; wenn sie das nicht aufarbeiten, werden sie in der nächsten Beziehung oder Ehe dieselben Fehler machen. Das gilt also für alle Leute und deswegen ist das Verschweigen hier ein so großes Unglück.

In Deutschland gilt die Studentenbewegung der „68er“ als ein wichtiger Wendepunkt im Umgang mit der Vergangenheit. Wie sind Ihnen denn diese Jahre in Frankfurt in Erinnerung geblieben?

Zunächst haben wir uns sehr über die jungen Leute gefreut. Es war ja auch ein Aufstand gegen alte Autoritäten und gegen Funktionäre aus der Nazi-Zeit. Als mein Mann, der Sozialist war und unabhängig von seiner jüdischen Herkunft im Widerstand gekämpft hat, dann aber als reaktionär beschimpft wurde, hat ihn das sehr betroffen gemacht. Persönlich ist mir noch in Erinnerung, dass ein junger Mann zu mir kam und mir erzählen wollte, dass ich zu viel von Gefühlen reden würde; das alles durch den Kopf müsse. Dem habe ich geantwortet: „Du irrst. Wo Du kein Gefühl hast, geht gar nichts“.

Wie haben Sie denn den Antisemitismus dieser Zeit wahrgenommen? In Frankfurt ist es ja zum Beispiel neben der Kontroverse um Rainer Werner Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ auch zu Rufen antisemitischer Parolen im Westend gekommen.

An den Protesten konnte man eigentlich sehr gut erkennen, wie Antisemitismus funktioniert. Man hat den Juden vorgeworfen, sich an den Immobilien zu bereichern. Aber niemand hat die Frage gestellt, was denn die Deutschen, die diesen Juden die Häuser verkauft hatten, daran verdient haben. Während die Geschäfte der Juden als unmenschlich galten, hinterfragte niemand die Geschäfte der Deutschen. Ganz abgesehen von der Frage, wie denn die Deutschen in den Besitz dieser Immobilien gekommen sind.

Zu Rainer Werner Fassbinder muss ich sagen, dass ich überzeugt bin, dass die Deutschen, die es nötig gehabt hätten, sowieso nicht in den Spiegel geschaut haben, den er ihnen vorhalten wollte. Für einen Antisemiten halte ich ihn aber nicht. Ich denke vielmehr, dass er nicht verstehen konnte – und das verstehen viele Leute auch heute noch nicht – ,dass uns diese Sprache unglaublich wehgetan hat.

Hören Sie denn diese Sprache heute auch noch oder wieder?

Nein, heute nicht mehr. Insgesamt möchte ich dazu aber noch etwas sagen. Als wir nach Hamburg gezogen sind, hat man uns gefragt, wie wir denn ausgerechnet nach Deutschland gehen könnten. Und später wurde ich gefragt, wie ich denn die 50er Jahre in Deutschland hätte aushalten können. Darauf habe ich geantwortet, dass wir eigentlich nur unter ehemaligen Widerstandskämpfern gelebt haben und auch nur so hier leben konnten. In Hamburg sind wir von den Heydorns, die beide im Widerstand gekämpft haben, sehr freundlich aufgenommen worden. Daraus hat sich eine jahrzehnte lange Freundschaft entwickelt. Dass diese Widerstandskämpfer allerdings nach dem Krieg von den Deutschen so schlecht behandelt wurden, dass sie als Hochverräter beschimpft wurden, das halte ich für eine große Schande; auch wenn ich keine Vertreterin der These von der Kollektivschuld bin.

Verfolgen Sie denn die aktuelle Berichterstattung zum Beispiel über den zunehmenden Antisemitismus islamischer Prägung an deutschen Schulhöfen? Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Da müssen Sie, glaube ich, andere Leute fragen, die sich mit diesem Phänomen wissenschaftlich auseinandersetzen. Mir ist wichtig zu betonen, dass immer wieder Schülerinnen und Schüler mit der Frage an mich herantreten, was denn gegen Antisemitismus und Hass zu unternehmen sei. Ich antworte auf diese Frage – und das habe ich auch bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft gesagt – ,dass zu jedem Unrecht sofort Nein gesagt werden muss. Die Menschen, die Unrecht tun, wissen nämlich ganz genau, dass es nicht Recht ist.

Viele Kinder haben darauf geantwortet, dass sie Angst hätten, in solchen Situationen alleine aufzustehen. Ich kann das verstehen und antworte dann immer, dass es schon ein richtiger und wichtiger Schritt war, das Unrecht zu erkennen und sich schlecht zu fühlen, weil man nichts dagegen unternommen hat. Vielleicht schafft man es ja beim zweiten oder dritten Mal.

Über ihre Tätigkeit als Zeitzeugin hinaus haben Sie sich ja auch immer wieder in der Bildungsarbeit engagiert und unter anderem auch in Forschungsprojekte der Goethe-Universität eingebracht. Wie kam es dazu?

Wo ich gerufen wurde, bin ich hingegangen. An der Universität erinnere ich mich an an das Projekt des Wollheim-Memorials auf dem Campus Westend, wo ja auch ein Raum nach mir benannt wurde.

Was sind Ihre Gedanken, wenn Sie auf dem Universitätscampus sind? Was verbinden Sie mit der Stadt Frankfurt und der Goethe-Universität?

In Frankfurt habe ich wirklich bei einem großen Teil der Menschen das Gefühl, dass sie sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Und für mich persönlich kann ich sagen, dass sowohl das Land Hessen, als auch die Stadt Frankfurt mit ihrer Universität mich immer haben wissen lassen, dass sie meine Arbeit sehr schätzen. In Frankfurt – das habe ich auch schon in meinem Buch geschrieben – habe ich seit '45 zum ersten Mal wieder das Gefühl gehabt, zuhause zu sein.

Wenn Sie den Studenten heute etwas mit auf den Weg geben könnten, was wäre es?

Ich bin mal gefragt worden, was denn nun in der Gesellschaft zu machen sei. Diese Frage haben mir Studenten gestellt, und das hat mich sehr enttäuscht. Ich habe ihnen geantwortet: „Ihr seid die Zukunft, wir haben nichts mehr zu melden, und ihr werdet es gestalten. Macht wenigstens einen Friedensmarsch.“

Das Interview führten Dr. Steffen Bruendel und Tibor Sarvari am 12. Juni 2017.
© Frankfurt Humanities Research Centre