Bei Erkrankungen des Nervensystems landen Proteine nicht selten am
falschen Ort und verklumpen. Dr. Dorothee Dormann hat diese fatale Entwicklung
bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und der Frontotemporalen Demenz (FTD)
untersucht. Sie hofft, dadurch
Zielmoleküle für die Therapie zu finden.
Bei einigen Krankheiten ist die
Medizin machtlos. In solchen Situationen kann sie den Betroffenen nur die
Linderung der Symptome anbieten – mehr nicht. ALS und FTD gehören zu dieser
Kategorie. Bei beiden ist das Gehirn betroffen. Bei der ALS gehen motorische
Nervenzellen zugrunde, was zu einer zunehmenden Lähmung führt. Die Krankheit
ist komplex. Bei der FTD, einer seltenen, häufig noch vor dem 65. Lebensjahr
auftretenden Demenz, verändern sich Persönlichkeit, Sozialverhalten und
Sprachfähigkeit. Patienten mit ALS und FTD sterben in der Regel wenige Jahre
nach der Diagnose. Der berühmteste ALS-Patient war der Astrophysiker Stephen
Hawking, der allerdings an einer sehr langsam verlaufenden juvenilen Form litt.
Die ALS war auch wegen einer ungewöhnlichen Spendenkampagne in den Medien, der "Ice
Bucket Challenge". Wer die ALS-Forschung unterstützen wollte, sollte sich
einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf gießen und mindestens drei Personen
benennen, die dies ebenfalls tun. Viele Prominente beteiligten sich an dieser
Aktion, auch in Deutschland.
Obwohl beide Krankheiten ganz
unterschiedliche Symptome zeigen, weisen sie ähnliche Proteinablagerungen in
den betroffenen Zelltypen des Gehirns auf. Die Krankheiten haben auch sonst
einige Gemeinsamkeiten. Etwa zehn Prozent der ALS-Patienten entwickeln auch
eine Frontotemporale Demenz. Die diesjährige Nachwuchspreisträgerin Dr.
Dorothee Dormann vom Biomedizinischen Centrum der
Ludwig-Maximilians-Universität München ist der Frage nachgegangen, wie die
typischen Ablagerungen entstehen. Sie fand heraus, dass bei beiden Erkrankungen
– neben vielen weiteren pathologischen Veränderungen – auch zwei Proteine aus
dem Zellkern ausgesperrt werden und sich im Zytoplasma anhäufen. Gerät die
Zelle in eine Stresssituation, etwa durch Sauerstoffmangel oder durch
schädliche Substanzen, landen beide Proteine in sogenannten Stress-Granula, wo
sie distinkte Tropfen bilden, aus denen dann stabile Proteinablagerungen
werden.
Krank durch defekte Adresse
Die ausgesperrten Proteine heißen
FUS und TDP-43. Beide Eiweiße sind normalerweise im Zellkern aktiv und
beteiligen sich dort am Ablesen der genetischen Information und dem
Zurechtschneiden der Botenribonukleinsäuren. Beide pendeln zudem zwischen
Zellkern und Zytoplasma hin und her, ohne dass man derzeit den genauen Grund
für diesen Pendelverkehr kennt. Dormann hat hauptsächlich das FUS-Protein
erforscht. Ihre Erkenntnisse lassen sich allerdings auch auf das verwandte
TDP-43-Protein übertragen. Im Jahr 2009 wurde bekannt, dass das FUS-Gen bei
einigen ALS-Patienten mutiert ist. Dormann zeigte bereits wenige Monate später,
dass die Mutation den Bereich betrifft, der das Eiweiß in den Zellkern
dirigiert. Die Veränderungen führen also dazu, dass der Transporter, der FUS in
den Zellkern chauffieren soll, das Protein nicht mehr erkennt und links liegen
lässt. Einige ALS-Erkrankungen beginnen also mit einer defekten molekularen
Adresse.
Wie wird das FUS-Protein aber bei
Patienten ohne mutierte Adresse aus dem Zellkern ausgesperrt? Die diesjährige
Nachwuchspreisträgerin fand heraus, dass der Transport auch durch eine
fehlerhafte Nachbearbeitung des FUS-Proteins gestört werden kann. Der
Transporter braucht offensichtlich nicht nur eine korrekte molekulare Adresse,
sondern auch Methylgruppen am FUS-Protein, sonst lässt er das Protein nicht
mehr los. Einigen FTD-Patienten ohne mutierte Adresse fehlt diese Methylierung.
Die Nachwuchspreisträgerin ist für diese Arbeiten 2014 mit dem Heinz
Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft geehrt worden. Dieser
Preis gilt als eine der bedeutendsten Auszeichnungen für den wissenschaftlichen
Nachwuchs in Deutschland.
Was geschieht mit den
ausgesperrten Proteinen im Zytoplasma? Zunächst einmal nichts. Kritisch wird es
in Stresssituationen. Dorothee Dormann konnte zeigen, dass FUS und TDP-43 dann
in sogenannte Stress-Granula hineingezogen werden. Stress-Granula sind
dynamische Strukturen, in denen die Zelle diverse Moleküle speichert, die nicht
unmittelbar zur Bewältigung der Krise beitragen. Dazu gehören vor allem
Botenribonukleinsäuren, deren Verwendung erst einmal ausgesetzt wird, weil die
Bewältigung der Stresssituation Vorrang hat. Ist die Krise vorbei, werden die
Granula wieder aufgelöst und der Inhalt weiterverwendet. Die Zelle sorgt auf
diese Weise dafür, dass sie den Stress möglichst unbeschadet übersteht.
Kritische Phasentrennung
Wie es in den Stress-Granula zu
den typischen Ablagerungen kommt, hat Dormann für das FUS-Protein näher
untersucht. Seine Eigenschaften sorgen offensichtlich dafür, dass es sich in
den Stress-Granula vom Rest des Inhalts absetzt. Dormann spricht von
Phasentrennung. So wie sich Wasser und Öl voneinander absetzen und zwei
getrennte Phasen bilden, bildet auch FUS in den Granula eine getrennte Phase.
Löslich bleiben die FUS-Tropfen durch die Bindung an den Kerntransporter. Diese
Bindung ist aber bei ALS-Patienten mit defekter molekularer Adresse gestört.
Bei FTD-Patienten bilden sich die distinkten Tropfen aufgrund der fehlenden
Methylierung.
Dorothee Dormann konzentriert
sich heute auf drei Fragestellungen. Sie untersucht zum einen, ob die erhöhte
Konzentration von FUS und TDP-43 im Zytoplasma einzig und allein durch den
fehlenden Import in den Zellkern verursacht wird. Da die beiden Proteine
fortwährend zwischen Zellkern und Zytoplasma hin und her pendeln, könnte die
Anreicherung am falschen Ort auch durch einen verstärkten Export aus dem
Zellkern bedingt sein. Die Nachwuchsträgerin interessiert sich deshalb für
mögliche Exportfaktoren, obwohl ihre bisherigen Experimente nahelegen, dass die
beiden Proteine den Zellkern passiv und ohne Hilfe eines Transporters
verlassen.
Mögliche Ziele für die Therapie
Dormann interessiert sich zudem
für weitere Modifizierungen. Außer den bereits erwähnten Methylgruppen können
auch Phosphat- oder andere chemische Gruppen an die FUS- oder TDP-43-Proteine
angehängt werden. Dormann möchte wissen, ob solche Veränderungen die
Eigenschaften der Proteine verändern. Es könnte zum Beispiel sein, dass gewisse
Modifizierungen dafür sorgen, dass die Proteine rascher in die Stress-Granula
hingezogen werden und sich dort auch schneller zu unlöslichen Ablagerungen
weiterentwickeln. Solche Modifizierungen wären dann mögliche Angriffspunkte für
eine Behandlung.
Der dritte Fragenkomplex, den
Dormann bearbeitet, hat mit der Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse zu tun. Auf
den ersten Blick scheinen ALS und FTD zwei völlig unterschiedliche Erkrankungen
zu sein, trotzdem gibt es ähnliche molekulare Störungen. Die Nachwuchspreisträgerin
möchte daher wissen, ob ein gestörter Transport zwischen Zellkern und
Zytoplasma oder die mit der Phasentrennung verbundene Tropfenbildung in den
Stress-Granula auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen mit
pathologischen Proteinablagerungen eine Rolle spielen. Dormann sucht also nach
Schnittmengen zwischen den neurodegenerativen Erkrankungen.
ALS und FTD sind vielschichtige Erkrankungen.
Bei der ALS sind bislang mehr als zwanzig relevante Gendefekte identifiziert
worden, darunter auch Mutationen in einem Gen zur Beseitigung von oxidativem
Stress, dem SOD1-Gen. Die diesjährige Nachwuchspreisträgerin hat mit dem
Nachweis, dass FUS und TDP-43 wegen ihrer Neigung zur Phasentrennung und
aufgrund fehlender Schutzfaktoren in den Stress-Granula verklumpen einen
wichtigen Beitrag zu diesem vielschichtigen und hochkompetitiven Arbeitsfeld
geliefert.
Weitere Informationen
Alle
Unterlagen der Pressemappe sowie Fotos von Frau Dr. Dormann sind unter www.paul-ehrlich-stiftung.de zur Verwendung hinterlegt. Der Abdruck ist
kostenfrei. Den ausführlichen Lebenslauf, ausgewählte Veröffentlichungen und
die Publikationsliste erhalten Sie bei Dr. Hildegard Kaulen, Telefon: +49 (0)
6122/52718, E-Mail: h.k@kaulen.wi.shuttle.de
Geschäftsstelle
der Paul Ehrlich-Stiftung:
Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität
Goethe-Universität Frankfurt
Campus Westend, PA-Gebäude
Theodor-W.-Adorno-Platz 1
60629 Frankfurt am Main
Geschäftsführung
Nike von Wersebe
Geschäftsführerin
Tel: 069 / 798 12234
Fax: 069 / 798 763 12234
wersebe@vff.uni-frankfurt.de
www.vff.uni-frankfurt.de
Referentin Mitglieder & Stiftungen
Tina Faber
Tel: 069 / 798 17237
Fax: 069 / 798 763 17237
faber@vff.uni-frankfurt.de
www.vff.uni-frankfurt.de
Marketing
Constanze von Plato
Tel: 069 / 798 17237
Fax: 069 / 798 763 17237
vonplato@vff.uni-frankfurt.de
www.vff.uni-frankfurt.de
Presseanfragen
Joachim Pietzsch
Tel: 069 / 36007188
j.pietzsch@wissenswort.com
Bankverbindung
Paul Ehrlich-Stiftung
Deutsche Bank AG
IBAN: DE38500700100700083900
BIC: DEUTDEFFXXX
Hinweis: Spenden sind steuerlich absetzbar.