Kastell und Vicus von Gernsheim

Lehrgrabungen 2014-2016 in Gernsheim (Kr. Groß-Gerau), Grundstück Nibelungenstraße 10-12

Leitung: Dr. Thomas Maurer

Auf einer der wenigen noch unbebauten Flächen im Bereich des „römischen Gernsheims“ führte die Abt. II des IAW von Sommer 2014 bis Frühling 2016 insgesamt drei Lehrgrabungskampagnen durch. Das Grabungsareal liegt gut 1 km südwestlich des Stadtkerns an der Ostseite der Nibelungenstraße, auf den Grundstücken Nr. 10 und 12. Bodenkundlich betrachtet liegt die Grabungsstätte noch auf der Niederterrasse, die wenige Meter weiter westlich mit einer geringmächtigen Stufe in die Rheinaue übergeht.

In der Umgebung konnten in den frühen 1970er Jahren im Rahmen der baulichen Erschließung des Wohnviertels zwischen B 44 und Winkelbach zahlreiche römische Funde beobachtet bzw. geborgen werden. Leider sind die weitaus meisten dieser von Laien durchgeführten Maßnahmen mangelhaft dokumentiert. Lediglich ein in der Siegfriedstraße entdecktes steinernes Gebäudefundament wurde zeichnerisch und fotographisch erfasst. In einer der Fundamentecken fand sich – offenbar in Zweitverwendung verbaut – die heute in der Brentanoanlage aufgestellte Basis einer sog. Jupitergigantensäule. Kartiert man die bekannten Fundstellen römischer Funde und Befunde in Gernsheim, so stellt man fest, dass das Grabungsareal von 2014-16 am westlichen Rand einer Konzentration liegt, die fast den gesamten bebauten Südwestens Gernsheim umfasst.

Da auch auf den im Osten und Süden unmittelbar benachbarten Grundstücken in den 1970er Jahren römische Funde geborgen wurden, erschien eine archäologische Untersuchung an dieser Stelle vielversprechend. Die Hoffnung trog nicht: Während der Grabungen wurden zahlreiche römische Strukturen angetroffen, die ein reichhaltiges Fundmaterial enthielten. Nichtrömische Befunde waren dabei sehr selten. Einige Befunde bzw. Störungen erwiesen sich als neuzeitlich, sie hängen teilweise mit der Nutzung des Grundstücks als Schrebergarten zusammen. Spuren prähistorischer Besiedlung fanden sich nicht.

Bedeutendster Befund im mittleren und nördlichen Bereich des Grabungsgeländes ist ein Spitzgrabensystem, welches in WSW-ONO-Richtung durch die Fläche läuft. Es besteht aus einem mächtigen, im Profil ungefähr V-förmigen Graben und einem nördlich davon parallel verlaufenden Graben mit gerundet-v-förmiger Sohle. Die beiden Gräben konnten auf einer Strecke von gut 25 m verfolgt werden, ohne dass sich Spuren einer Abbiegung oder eines Durchlasses feststellen ließen. Beide wurden offenbar noch in der Römerzeit planiert und dabei mit großen Mengen an Abfall (v.a. Keramik und Tierknochen) verfüllt. Das aus der Grabenverfüllung geborgene Fundmaterial weist auf eine Planierung im frühen 2. Jahrhundert n. Chr. hin. In der Umgebung der Gräben konnten weitere (Abfall-)Gruben beobachtet werden, die aufgrund der enthaltenen Funde in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Grabenplanierung stehen.

Welche Funktion besaßen die beiden Gräben? Naheliegend ist es, sie mit einer römischen Militäranlage in Verbindung zu bringen. Schon lange wurde angenommen, dass Gernsheim einer der Orte sei, an dem in flavisch-traianischer Zeit römische Auxiliartruppen stationiert gewesen sein müssten. Dafür sprechen die Lage Gernsheims an der wichtigen rechtsrheinischen Straße von der Mainmündung nach Ladenburg/Heidelberg und die Tatsache, dass im Zuge dieser Straße zwischen den nachgewiesenen Kastellen Groß-Gerau und Ladenburg eine Lücke klafft, sowie die Existenz einiger häufig im militärischen Kontext anzutreffender Funde wie etwa gestempelte Ziegel und Ausrüstungsgegenstände der Soldaten. Bisher war es allerdings nicht gelungen, das Militärlager zu lokalisieren. Meistens wurde vermutet, dass es im Bereich des mittelalterlichen Stadtkerns gelegen habe oder dass es vom Rhein ganz oder teilweise abgeschwemmt worden sei.

Für die Ansprache der beiden Gräben als Teil der Umwehrung des Auxiliarkastells können folgende Argumente angeführt werden:

  • Form der Gräben (Spitzgräben)
  • Datierung ihrer Verfüllung am Beginn des 2. Jahrhunderts (= Auflassungszeitraum der meisten in der Rheinebene gelegenen Auxiliarkastelle wie etwa Groß-Gerau, Hofheim, Ladenburg)
  • Vorkommen von Militariafunden im Bereich des Grabungsareals
  • Lage am Westrand der römischen Fundstreuung an der Niederterrassenkante

Nicht geklärt werden konnte die Frage, auf welcher Seite des Grabensystems sich das Lagerinnere befand. Spuren einer Holz-Erde-Mauer bzw. eines Lagerwalls – für die Innenseite eines Lagers charakteristische Strukturen – wurden nicht gefunden. Die allgemeine Fundverbreitung spricht jedoch dafür, das Lagerinnere südlich/südöstlich unseres Doppelgrabens anzunehmen.

Im südöstlichen Bereich der Grabungsfläche wurde eine völlig andere Befundsituation angetroffen. Die hier untersuchten römischen Strukturen unterscheiden sich funktional wie chronologisch deutlich von den Befunden in der Mitte und im Norden. Nach Ausweis der datierenden Funde gehören sie in die zivile, nachkastellzeitliche Besiedlungsphase des römischen Gernsheim, also in das fortgeschrittene 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Wichtigster Befund ist das aus Bruchsteinen bestehende Fundament eines römerzeitlichen Gebäudes. Leider konnte das Gebäude nicht vollständig erfasst werden, sein östlicher Abschluss liegt bereits unter dem Nachbargrundstück Siegfriedstr. 9. Festgestellt werden konnte eine Längsausdehnung von 12,75 m. Seine Breite betrug mind. 5 m. Die Längsachse verläuft orthogonal zur Flucht des Doppelgrabensystems. Das Fundament besitzt durchgängig noch eine Breite von etwa 1 m und besteht aus Bruchsteinen verschiedenster Art, unter denen rötlicher Buntsandstein überwiegt. Vom aufgehenden Mauerwerk hat sich nichts erhalten. An der Südseite des Gebäudes war ein sorgfältig aus Steinen gemauerter Keller angebaut, von dem der westliche Teil gerade noch in der Südostecke der Grabungsfläche erfasst wurde (der östliche Teil liegt wie der übrige Rest des Gebäudes unter dem Nachbargrundstück und entzog sich daher einer Untersuchung). Die Breite des Innenraums beträgt gerade einmal 1,9 m. An der Westseite (wohl die Schmalseite) ist von einem Fenster noch der V-förmige Lichtschacht erhalten. Die Verfüllung des Kellers wurde während der Grabungen bis zur Sohle ausgeräumt. Neben zahlreichen Bauschuttresten (Ziegel und Schiefer) sind v.a. zahlreiche bemalte Wandputzfragmente zu erwähnen. Die bemalten Wände dürften das darüberliegende Erdgeschoss geschmückt haben.

Westlich des Steinfundaments und des Kellers konnten während der Grabungskampagne 2015 weitere Befunde aufgedeckt werden, die ebenfalls als Reste von Wohnbebauung angesprochen werden können, allerdings handelt es sich hierbei um reine Holz-Erde-Konstruktionen. Die geringen Spuren von Balkengräbchen laufen parallel zur Langseite des Steinfundaments (und orthogonal zur Flucht des Doppelgrabens). Am auffälligsten waren zwei kellerartige Gruben im Süden, die zusammen mit dem Steinkeller in einer Reihe liegen. Deutlich sichtbar wird hier eine Parzellierung, die sich am Verlauf des (zu dem Kastell gehörenden) Doppelgrabens orientiert. Funde erweisen, dass sowohl Stein- als auch Fachwerkgebäude in eine spätere nachkastellzeitliche Phase des römischen Gernsheim gehörten.

Zusammengefasst lässt sich die Entwicklung im Bereich der Grabungsflächen so skizzieren: Seit flavischer Zeit lag das Gelände im Randbereich oder wenigstens in der Nähe einer römischen Militäranlage. Bei der dort stationierten Einheit dürfte es sich nach Ausweis der Funde um eine berittene oder teilberittene Truppe gehandelt haben. Nachdem das Militär zu Beginn des 2. Jahrhunderts abzog, wurde das Gelände planiert und für eine zivile Bebauung freigemacht. Diese Bebauung bestand aus Fachwerk- und Steingebäuden; letztere wiesen teilweise eine gehobene Ausstattung auf (Wandmalerei). Die jüngsten Funde gehören hier in das frühe 3. Jahrhundert.