Das geltende Völkerrecht erfasst die besondere Situation von schon länger ansässigen Zuwanderern, sog. ‚Neuen Minderheiten‘, nur ungenügend. Das Teilprojekt wird untersuchen, ob und ggf. wie sich die Bestimmungen des für Europa wichtigsten Vertrages zum Schutz der Rechte ‚Alter Minderheiten‘, nämlich des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, auf ‚Neue Minderheiten‘ anwenden lassen und so ein Beitrag zu ihrer besseren gesellschaftlichen Integration bei gleichzeitiger Wahrung ihrer eigenständigen Identität geleistet werden kann.
Der Zusammenbruch des Sozialismus in den (ost)-europäischen Staaten im Jahre 1989 bewirkte u.a. auch eine Renaissance des völkerrechtlichen Schutzes nationaler Minderheiten. Diese führte zunächst zu den einschlägigen Bestimmungen der Schlussakte der Kopenhagener Konferenz zur Menschlichen Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990. Die große Gefahr, die ungelöste Probleme in den Beziehungen zwischen Mehrheitsbevölkerung und nationalen Minderheiten für Frieden und Stabilität ganzer Regionen darstellen, wurde schon bald deutlich: Während die Spannungen in den baltischen Staaten nicht in dauerhafte gewaltsame Konflikte mündeten, eskalierte die Lage im damaligen Jugoslawien und im Kaukasus in teils mehrere Jahre andauernde kriegerische Auseinandersetzungen, von denen manche bis heute als frozen conflicts immer noch erhebliches Gewaltpotential bergen. Neben vielen politischen Initiativen reagierte die internationale Staatengemeinschaft mit dem auf dem Wiener Gipfel des Europarats am 9. Oktober 1993 gefassten Beschluss, ein Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) zu erarbeiten. Dieses trat am 1. Februar 1998 in Kraft, ist heute von 39 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert und gilt allgemein als die wichtigste völkerrechtliche Grundlage für die Ermittlung europäischer Standards im Bereich des rechtlichen Schutzes nationaler Minderheiten.
Während es aufgrund der historischen Gegebenheiten in den sozialistischen Staaten Europas kaum beachtliche grenzüberschreitende Migrationsbewegungen – die von der Sowjetunion nachdrücklich geförderte, teils massive Ansiedlung russischsprachiger Menschen außerhalb der Russischen Föderativen Sowjetrepublik wurde erst nach der Auflösung der Sowjetunion am 15. Dezember 1991 zu einem ‚minderheitenrechtlichen' Problem – gegeben hatte, war dies in den nicht-sozialistischen Staaten grundlegend anders gewesen: Zum einen hatte es vor allem seit den 1950er Jahren erhebliche Zuwanderungen aus den damaligen bzw. später ehemaligen Kolonien vor allem nach Belgien, Frankreich, den Niederlanden und das Vereinigte Königreich gegeben; zum anderen hatten neben den genannten Staaten auch die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Luxemburg, Österreich, die Schweiz und Schweden zur Beseitigung eines Arbeitskräftemangels in ganz erheblichem Umfang Menschen aus den Anrainerstaaten des Mittelmeers als Wanderarbeitnehmer angezogen. Schon bald zeigte sich, dass ein Großteil dieser Migranten zu Zuwanderern geworden war oder es werden wollte.
Während es in Folge des Wiener Gipfels unbestritten war, dass ein zu erarbeitender völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz der Rechte nationaler Minderheiten sich auf die sogenannten ‚alten' oder ‚autochthonen' Minderheiten – in Deutschland sind das die Dänen, die Friesen, die Sinti und Roma sowie die Sorben – beziehen würde, war nicht geklärt, ob er auch auf ‚neue' oder ‚allochthone' Minderheiten, also erst kurz zuvor von Migranten zu Zuwanderern gewordenen Menschen, anwendbar sein sollte. Die letztlich gefundene Lösung sah vor, in das RÜ keine Definition des Begriffs ‚nationale Minderheit' aufzunehmen und es im Grundsatz den (künftigen) Vertragsstaaten zu überlassen, selbst den personellen Anwendungsbereich des RÜ zu bestimmen. Immerhin enthält das RÜ einige Bestimmungen, etwa zur Möglichkeit der Verwendung von Minderheitensprachen im Amtsverkehr oder im Bildungs- und Erziehungswesen, die ihrem Wortlaut nach eindeutig nur auf ‚alte' Minderheiten anwendbar sind; andererseits gibt es mit Art. 6 RÜ eine Bestimmung, welche die Mitgliedstaaten verpflichtet, für gegenseitige Achtung und Verständnis zwischen allen auf ihrem Hoheitsgebiet lebenden Menschen zu sorgen, was nicht nur aus Zuwanderern des 20. Jahrhunderts bestehende ‚neue' Minderheiten erfasst, sondern z.B. auch Menschen, die etwa mit der jüngsten Migration seit 2015 nach Europa gekommen sind. Die anderen Bestimmungen, etwa im Bereich Kultur und Medien, sind ihrem Wortlaut nach sowohl auf ‚alte' wie ‚neue' Minderheiten anwendbar, werden aber von der ganz großen Mehrheit der Vertragsstaaten des RÜ nicht auf Zuwanderer angewendet.
Sinn und Zweck des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes ist in erster Linie Wahrung und Entwicklung der eigenständigen Identität der Angehörigen nationaler Minderheiten als integraler Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes. Menschen, die in ihrer vielfältigen Identität – neben ihrer lokalen und ggf. regionalen Identität sowie ihrer Identität als Staatsangehörige eines bestimmten Staates und ggf. auch der Europäischen Union auch in ihrer Identität als Angehörige einer nationalen Minderheit oder einer Gruppe von Zuwanderern – anerkannt sind und diese ungestört leben können, dürften eher bereit sein, sich in die Gesellschaft des Staates, in dem sie leben, zu integrieren, weil sie keine Diskriminierungen oder Zwangsassimilationen fürchten müssen. Eine solche truly integrated society birgt auch weniger Gefahren für die politische und soziale Stabilität der betroffenen Staaten und Regionen und dient damit auch der Erfüllung des sicherheitspolitischen Komponente des internationalen Minderheitenschutzes.
Angesichts guter Erfahrungen mit dem Überwachungssystem des RÜ und der Einschätzung, dass manche Gruppen von Zuwanderern in Europa vor der Schwierigkeit stehen bzw. zu stehen meinen, sich zwischen Integration in die Gesellschaft der Staaten, in denen sie leben (die ja durchaus die Staaten ihrer Staatsangehörigkeit sein können), und Bewahrung ihrer eigenständigen Identität entscheiden zu müssen, woraus sich ganz offenbar erhebliche sozialpolitische Probleme ergeben, gibt es im internationalen Minderheitenschutz neuerdings Überlegungen zu untersuchen, ob das RÜ auch für diese Herausforderung der völligen Integration ‚neuer' Minderheiten bei gleichzeitiger Wahrung ihrer eigenständigen Identität nutzbar gemacht werden kann. Dies scheint deswegen sinnvoll, weil einerseits das Unionsrecht, wenn es überhaupt auf die betroffenen Zuwanderer anwendbar ist, diese Materie allenfalls ganz oberflächlich regelt, und andererseits die UN Wanderarbeiterkonvention von 1990 zum einen nicht auf Integration bei gleichzeitiger Identitätswahrung zielt und zum anderen nicht zu erwarten ist, dass sie in absehbarer Zeit von Deutschland oder anderen Zuwanderungsstaaten ratifiziert werden wird. Erste Überlegungen zu diesem Fragenkreis wurden im April 2017 auf einer auf Initiative von Tove Malloy (Flensburg) und Francesco Palermo (Bozen/Bolzano) veranstalteten Tagung in der Villa Vigoni ausgetauscht und werden von den beteiligten Personen seither fortgeführt. Diese – im Ergebnis durchaus offenen – Forschungen eignen sich sehr gut für eine Integration in das hier relevante LOEWE-Projekt ‚Minderheitenstudien: Sprache und Identität' und einige der beteiligten Personen sind auch als Kooperationspartner sehr geeignet. Wiederholt sei schließlich, dass zumindest einige Aspekte des RÜ auch für alle Migranten, also auch solche aus der seit 2015 anhaltenden Bewegung, anwendbar sind, worin ein in seiner Bedeutung noch nicht erforschter added value zu den selbstverständlich geltenden allgemeinen menschen- und flüchtlingsrechtlichen Normen liegen könnte..
Die Einbeziehung dieses Projekts in das inter- bzw. transdisziplinär angelegte LOEWE-Projekt ‚Minderheitenstudien: Sprache und Identität' ist aus mindestens drei Gründen sinnvoll und gewinnbringend: Zum einen fehlt es den beteiligten Personen aus dem Bereich des Völkerrechts oft an Kompetenz zu zweckmäßiger empirischer Forschung; ohne eine solche wertende Spiegelung an der sozialen Wirklichkeit läuft die vor allem völkerrechtliche Forschung Gefahr, zu einem realitätsfernen Glasperlenspiel zu degenerieren. Zum zweiten bewirkt die Eingliederung in das LOEWE-Projekt ‚Minderheitenstudien, Sprache und Identität' bessere Kenntnis der neuesten Entwicklungen im Bereich der sozialwissenschaftlichen Forschungen zur ‚Identität'. Zum dritten schließlich ergibt sich hieraus auch ganz notwendig der Anschluss an bzw. die Verknüpfung mit der aktuellen Forschung zum Komplex ‚Selbstsicht und Fremdsicht' als maßgebliche Faktoren für die Bildung und Wahrnehmung von ‚Identität'.
Der zeitliche Ablauf der Forschung in diesem Teilprojekt ist wie folgt geplant: Gegenwärtig, d.h. im ersten Jahr des Projekts, wird eine Studie erstellt, in der ermittelt werden soll, welche Formen des Erwerbs von Kenntnissen in der Minderheiten-Muttersprache einerseits und der Staatssprache andererseits sich bei Angehörigen ‚alter Minderheiten' als besonders erfolgreich hinsichtlich des zweifachen Ziels, nämlich völlige Integration in die Gesellschaft des Aufenthaltsstaats bei gleichzeitiger Wahrung und Förderung der eigenständigen Identität der Angehörigen ‚alter' nationaler Minderheiten gezeigt haben. Grundlage der Untersuchung sind in erster Linie die Berichte des Beratenden Ausschusses unter dem RÜ. Die Studie soll Ende 2020 erstellt sein,
Gleichzeitig wird begonnen, zusammen mit externen Kooperationspartnern zu untersuchen, welche Modelle zur Förderung der Integration von Zuwanderern bei gleichzeitiger Förderung der Wahrung ihrer eigenständigen Identitäten es in den europäischen Zuwanderungsstaaten gibt und welche dieser Modelle in der Praxis erfolgreich waren. Dabei wird es zentral um die Frage gehen, ob diejenigen Modelle, die sich bei Angehörigen ‚alter' nationaler Minderheiten bewährt haben, auch bei Zuwanderern erfolgreich waren oder zumindest Erfolg versprechen. Diese Untersuchung wird im Jahre 2021 abgeschlossen sein.
Schon während dieses Forschungsabschnitts wird eine immer engere Kooperation mit den Mitwirkenden anderer Teilprojekte, vor allem aus der Soziologie (B.1), den Erziehungswissenschaften (B.2), der Empirischen Sprachwissenschaft (B.3 und C.2.2) und wohl auch den Islamstudien (C.1.1.) geschaffen werden, damit nach Abschluss dieses zweiten Abschnitts der Arbeiten im Teilprojekt A.1 dann im Zusammenwirken mit diesen Partnern aus dem LOEWE-Projekt ‚Minderheitenstudien: Sprache und Identität' untersucht werden kann, wie sich die bis dahin erzielten Ergebnisse des rechtswissenschaftlichen Teilprojekts zu den bis dahin gewonnenen Erkenntnissen der Forschungen dieser Teilprojekte verhalten.
Auf dieser Grundlage können dann zum Abschluss des LOEWE-Projekts ‚Minderheitenstudien: Sprache und Identität' – hoffentlich – Empfehlungen für die rechtliche Strukturierung von Maßnahmen formuliert werden, die Erfolge bei der Integration von Zuwanderern bei gleichzeitiger Wahrung ihrer eigenständigen Identität versprechen. Abhängig von den erzielten Ergebnissen und den allgemeinen politischen Entwicklungen könnten sich diese Empfehlungen über den Rahmen der deutschen Rechtsordnung hinaus auch auf das Unionsrecht und ggf. sogar auch auf das (regionale, d.h. europäische) Völkerrecht erstrecken.