Als regelmässig wiederholtes Ritual festigt die Liturgie die Identität
als Minderheit, ohne Interaktionen mit der Mehrheit in anderen als
religiösen Kontexten zu beeinflussen. Bis zur Liturgiereform des
europäischen und nordamerikanischen Judentums im 19. Jahrhundert war
Hebräisch als Liturgiesprache damit wesentlicher Bestandteil der
jüdischen Identität, obwohl es meist nur passiv beherrscht wurde.
Mit
einer komparativen historischen Studie zur Liturgiesprache will das
Projekt sowohl die sprachliche Kompetenz und Kreativität in Hebräisch
ausloten, als auch mögliche Interferenzen der Mehrheitssprache
identifizieren, wobei unterschiedliche Bedingungen in Bezug auf Alltags-
und Kultursprache berücksichtigt werden.
Untersucht wird
liturgische Poesie, die einzige jüdische Literaturgattung, die in der
gesamten jüdischen Diaspora durchgehend in Hebräisch abgefasst wurde.
Diese Poesie ist ein sich immer wieder erneuernder Teil der Liturgie,
der die gleichbleibende Standardliturgie ergänzt. Festgelegte Momente in
der Liturgie, standardisierte Formen und Inhalte, und obligatorische
Rückgriffe auf biblische Sprache prägen die liturgische Poesie in allen
jüdischen Traditionen, dennoch sind große regionale und zeitliche
Unterschiede zu beobachten, die einen Vergleich ermöglichen.
Poetische
Corpora werden vollständig auf die Verwendung von biblischen Phrasen
hin untersucht. Es ist davon auszugehen, dass die “liturgische Bibel",
also die regelmäßig gottesdienstlich verwendeten Abschnitte, deutlich
bekannter sind und mehr Identifikationspotential haben. Mit geringer
werdenden Hebräisch-Kenntnissen müsste also ihr Anteil an den biblischen
Phrasen in der liturgischen Poesie ansteigen. In einem weiteren
Schritt, der mögliche Interferenzen mit der gesprochenen Sprache
anzeigen soll, werden die nicht Bibelsprachlichen Bestandteile der
liturgischen Poesie auf Neologismen, Morphologie und syntaktische
Besonderheiten untersucht.