Die Immunologen Prof. Dr. Richard A. Lerner und Prof. Dr. Peter G.
Schultz, beide Scripps Research Institute, La Jolla, USA, erielten den mit insgesamt
65.000 Euro dotierten Paul Ehrlich-und Ludwig Darmstaedter-Preis 2003 für ihre Leistungen
bei der Entwicklung von katalytischen Antiköpern. Dies beschloss der wissenschaftliche
Stiftungsrat der Paul Ehrlich-Stiftung; in der Begründung heißt es: „Richard A. Lemer und
Peter G. Schultz erhalten den Preis für den Nachweis, dass die vom Immunsystem erzeugten
Antikörper als enzymähnliche Reaktionsvermittler an beliebige chemische Funktionen
adaptiert werden können. Eine große Zahl enzymartiger Reaktionsmechanismen konnte auf
die Weise im Detail aufgeklärt werden." Die Auszeichnung, die am 14. März 2003 in der
Frankfurter Paulskirche in Anwesenheit von Bundespräsident Johannes Rau verliehen wurde,
gehört zu den höchsten und international renommiertesten Preisen, die in der Bundesrepublik
Deutschland auf dem Gebiet der Medizin vergeben werden.
Katalytische Antikörper bilden eine neue Gruppe von Molekülen. Sie vereinen die ungeheure
Vielfalt der Antikörper mit den katalytischen Fähigkeiten von Enzymen. Beide Typen von
Proteinen sind eigentlich auf völlig unterschiedliche Aufgaben zugeschnitten: Enzyme
erleichtern den Ablauf chemischer Reaktionen, ohne selbst verbraucht zu werden. Antikörper
dagegen zeichnen sich vor allem durch ihre Fähigkeit aus, körperfremde Moleküle aufzuspüren
und zu binden. Beide Molekülklassen haben eins gemeinsam: Sie müssen an ihre Zielmoleküle
binden, um wirksam zu werden. Enzyme verfügen über eine in die Oberfläche eingesenkte
Spalte oder Tasche, in der die Reaktionspartner während der Reaktion verankert werden.
Antikörper haben ebenfalls eine spezifische Bindungsstelle, mit der sie sich an ein als
körperfremd erkanntes Molekül anlagern, um dieses für die Immunabwehr zu markieren. Doch
während das Immunsystem eine riesige Armada von 100 Millionen unterschiedlicher
Antikörper aussenden kam, um die Vielzahl möglicher Eindringlinge zu besiegen, ist die
Anzahl unterschiedlicher biochemischer Reaktionen im Organismus bescheiden: Es gibt nur
einige tausend Enzyme, die bestimmte Reaktionen katalysieren. Dies bedeutet, dass es für
biologisch unbedeutendere, aber eventuell anderweitig interessante Reaktionen keine
passenden Enzyme gibt. Das könnte sich mit Hilfe der katalytischen Antikörper grundlegend
ändern.
Richard A. Lerner und Peter G. Schultz kamen erstmals 1986 auf die ldee, die Eigenschaften
der beiden Proteinklassen miteinander zu kombinieren: Die beiden gelernten Chemiker suchten
unabhängig voneinander - Richard A. Lerner arbeitete bereits am Scripps Research Institute in
La Jolla, Peter G. Schultz noch an der University of California in Berkeley - nach Wegen, die
Bindungsenergie zwischen einem Antikörper und seiner Zielstruktur zur Katalyse chemischer
Reaktionen zu verwenden.
Dabei nutzten die Forscher aus, dass Enzyme wie auch Antikörper in den Molekülen, an die
sie binden, strukturelle Änderungen hervorrufen. Es entstehen aktivierte Übergangszustände,
die energiereicher sind als die jeweiligen Molekülkonformationen vor und nach einer
chemischen Reaktion. Der wesentliche Unterschied zwischen Enzym- und
Antikörperreaktionen besteht jedoch darin, dass Enzyme bevorzugt energiereiche, aktivierte
Konfigurationen stabilisieren, Antikörper dagegen nicht. Wenn es gelänge, einen Antikörper
zu erzeugen, der einen bestimmten - energiereicheren - Übergangszustand spezifisch erkennt
und an ihn bindet, dann könnte dieser Antikörper unter Ausnutzung seiner Bindungsenergie
die dazugehörige Reaktion katalysieren, so die Hypothese.
Mit immunologischen Methoden stellten Lerner und Schultz Antikörper gegen Phosphat- und
Phosphonat-Moleküle her, die in ihrer räumlichen Anordnung den aktivierten
Übergangszuständen ähneln, die zum Beispiel bei der Ester-Hydrolyse entstehen. Die neuen
Antikörper waren spezifisch gegen den Übergangszustand gerichtet, stabilisierten diesen und
beschleunigten dadurch die Reaktion - und zwar zum Teil erheblich: Lerner entwickelte zum
Beispiel mit Hilfe eines tetraedisch gebauten Analogons, das an ein Trägermolekül gebunden
einer Maus injiziert wurde, einen Antikörper gegen das Intermediat, ebenfalls ein Tetraeder, das bei der Ester-Hydrolyse entsteht. Mit Hilfe dieses katalytischen Antikörpers fand die Reaktion 10hoch7 - bis 10hoch8 -mal schneller statt als ohne Antikörper. Schultz produzierte
unabhängig davon einen Antikörper gegen ein künstlich hergestelltes Porphyrin-Analogon;
dieser Antikörper ähnelte in seinen Eigenschaften dem Enzym Ferrochelarase, das diese
Reaktion normalerweise katalysiert.
Katalytische Antiköper beschleunigten darüber hinaus auch Diels-Alder-Reaktionen und
Claisen-Umlagerungen. Diesen Ringschlussreaktionen ist gemeinsam, dass auch hier die
Konformation des Übergangszustandes bekannt war und Antikörper daher gegen ein
Analogon dieses Übergangszustandes entwickelt werden konnten.
Die Ergebnisse von Schultz und Lerner zeigten, dass die Katalyse durch Antiköper nur dann
funktionieren kann, wenn sich der Übergangszustand stabilisieren lässt. Damit war der
entscheidende Schlüssel für die Beeinflussung dieses Prozesses gefunden. Insbesondere für
die organische Chemie, aber auch für die molekularbiologische Forschung sowie den
medizinischen und biotechnologischen Bereich sind die katalytischen Antikörper von großer
Bedeutung, denn sie können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Richtung und die
Reaktivität chemischer Reaktionen genau zu kontrollieren und ihre Effizienz zu optimieren.
„Sie gehören zu den wichtigsten Entwicklungen in der Immunchemie", ist der Laudator und
Nobelpreisträger Pro£ Dr. Dr. h.c. mult. Manfred Eigen überzeugt. „Die Arbeiten von Lerner
und Schultz gewähren uns einen fundamentalen Einblick in die Natur der Katalyse und geben
uns neue Möglichkeiten zu Kontrolle chemischer Reaktionen. Mit ihnen bekommen
Chemiker ein neues Spielfeld für die Entwicklung von molekularer Diversität - als Mimikry
des Immunsystems."
Damit vereinen katalytische Antikörper nicht nu die Eigenschaften von Antikörpern und
Enzymen, sondern auch die chemischen und biologischen Wissenschaften miteinander.
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass alle natürlichen Antikörper in der Lage sind,
einen oxidativen Abbau gebundener Substrate, mit Ozon als kurzlebiger Zwischenstufe,
einzuleiten. „Die Erkenntnis, dass natürliche Antikörper außer ihrer Bindungsfunktion auch
reaktive Eigenschaften besitzen, führt zu einem Paradigmenwechsel hinsichtlich der
Beurteilung ihrer Rolle im Immunsystem", sagt Manfred Eigen.