von Kathrin Muthorst (Text und Fotos)

 

Wer sich aufmacht, Spuren des Großen Krieges am Chemin des dames zu suchen, findet sich stattdessen mitten in schönster Idylle wieder: Über das kilometerweite Schlachtfeld ist längst saftiges Gras gewachsen, breite Salatfelder und dichte Wälder bedecken die Ebene. Dazwischen einige kleine Dörfer, die nach ihrer Zerstörung im Krieg ein paar hundert Meter weiter wieder aufgebaut worden sind; und die Stadt Laon mit nicht mehr als 10.000 Einwohnern und traditionellen kleinen Geschäften, wie verwunschen, erhaben über die Felder auf einem Hügel gelegen.

Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Geschichte des Ortes: Rund um das Plateau de Californie ist der Waldboden seltsam zu Gräben verformt. Hinweisschilder klären auf über längst verschwundene Siedlungen. Steine im Boden erinnern an das Fundament eines Hauses, eines Geschäfts, vielleicht sogar einer Kirche. Der so fruchtbar wirkende Boden ist, heißt es, noch immer von Metallpartikeln verseucht, das Grundwasser von Blei kontaminiert. Unter dem satten Grün rosten vergessene Sprengköpfe. Angeblich ersticken bis heute hin und wieder Schafe an herumliegendem Stacheldraht.

Doch alles lässt sich nur erahnen, denn der Chemin des dames ist ein Ort der Niederlage, der Verluste; eine Million Soldaten hatte General Nivelle im Frühjahr 1917 den Hügel hinauf gejagt - und verloren. Die meisten Gräber auf dem Friedhof von Cerny tragen das Datum der Offensive. Hastig sind Berge von Leichen zusammengetragen und unter uniformen weißen Kreuzen beerdigt worden (Steine für moslemische Soldaten und Anhänger sämtlicher anderer Glaubensrichtungen, es war zu wenig Zeit, um Unterschiede zu machen). Jedes Grab trägt die immer gleiche Inschrift: Mort pour la France. Auch das desjenigen Soldaten, der als Meuterer erschossen worden ist, um ein Exempel zu statuieren. Aus Versehen. Ein Detail, das die Absurdität der Geschichte offenlegt. Denn der Chemin des dames ist auch ein Ort des Widerstands: Hier haben französische Soldaten die Waffen niedergelegt, sich gegen ihre Offiziere gewendet, das Ende des Krieges gefordert. Das pazifistische Denkmal am Fuß des Plateau, das vor allem jenen Meuterern gilt, ist viel umstritten, mehrfach demoliert, zuletzt (August 2014) gänzlich entwendet worden. An "Vaterlandsverräter" will sich hier niemand erinnern, so scheint es. Ein Ort, der sich viele Jahrzehnte lang nicht recht für den Patriotismus eignen wollte. Touristen gibt es daher kaum, zu wenig ist die Gegend historisch aufbereitet. Wer sich mit Kriegsgeschichte auseinandersetzt, reist lieber nach Verdun, wo es Siege zu dokumentieren gibt, wo Flaggen gehisst und Souvenirs verkauft werden. Staatliche Unterstützung bei archäologischen Projekten gibt es hier kaum. Zu viel Nationalstolz, zu wenig Geld.

Die privat organisierte Association "Chemin des dames" ermöglicht Interessierten jedoch den Zugang zu dem weitgehend unerschlossenen unterirdischen Höhlensystem, das Soldaten beider Seiten der Front als Unterschlupf gedient hat. Der Präsident der Association Gilles Chauwin kennt sich bestens aus in der sog. Tauentzien-Höhle, die während der ersten drei Jahre des Krieges von Deutschen besetzt war. Der Abstieg führt über eine mäßig befestigte Leiter ca. zwölf Meter hinunter in die Tiefe; in der Höhle selbst herrscht völlige Finsternis, Großgewachsene müssen gelegentlich den Kopf einziehen. Der Jahrhunderte alte Steinbruch in der Nähe von Braye-en-Laonnois umfasst mehrere Hektar Fläche. Nach dem deutschen Bataillon war er auch von Franzosen besetzt, kurz vor Kriegsende zusätzliche von Us-amerikanischen Soldaten. Links und rechts der schmalen Gänge fällt das Licht der Taschenlampe auf alte Stiefel, Gasmasken und Munition. Und eine auffällige Vielzahl leerer Weinflaschen. Ohne Alkohol, erklärt Chauwin, wären alle verrückt geworden. Verschiedene deutsche Hinweisschilder weisen die Richtung. Links geht es zur Munitionskammer, rechts zum Schreibzimmer. Alles ist verhältnismäßig gut erhalten. Die Luft ist sehr feucht. Im hinteren Teil der Höhle befinden sich unzählige Inschriften an den Wänden. Namen, Daten, Zeichnungen, Karikaturen, Gebete. Neben die Signaturen dreier deutscher Soldaten reiht sich die Unterschrift eines französischen. Das Bild hat etwas seltsam Versöhnliches, ein duldsames Nebeneinander. Ein Stück weiter an der Decke in großen schwarzen Lettern ein einzelnes Wort: Hell. Tagsüber haben sich die Soldaten hier herunter zurück gezogen, um bei Anbruch der Dunkelheit den Gegner über der Erde anzugreifen. Manchmal stürzten Teile der Höhle ein und begruben deren Insassen unter sich. Der designierte Feind befand sich hörbar nur wenige Meter auf der anderen Seite der Höhlenwände, doch unter Tage wurde selten gekämpft. Obwohl viele Zeichnungen Flaggen und Loyalität darstellen, weisen andere auf eine allmähliche Desillusionierung der Soldaten hin. Und insgeheim drängt sich die sonst so vermessene, aber zwingende Frage auf: Warum hat es drei Jahre gedauert, bis sich Einzelne dem Kriegsdienst verweigerten? Wieso wurde nicht eher Widerstand geleistet?

Viele der Inschriften seien von Plünderern abgetragen und verkauft worden, bevor seine Association die Höhle in den achtziger Jahren für die Öffentlichkeit unzugänglich gemacht habe, erzählt Chauwin. Doch diejenigen, die noch übrig sind, vermitteln ein ganz authentisches Bild von der Geschichte des Ortes. Nach gut zwei Stunden unter der Erde ist die Kälte durch die Kleidung bis in die Knochen gezogen, und das unweigerliche Beklemmungsgefühl nicht mehr zu unterdrücken, das sich bereits beim Abstieg angekündigt hat: Auf eben diesem Grund hausten hunderte Soldaten jahrelang, manche von ihnen erst sechzehn Jahre alt. Allmählich lässt sich die Vorstellung nicht mehr zurückdrängen, um dem Ort sachlich zu begegnen. Chauwin hingegen raucht gelassen eine Zigarette. Am Ende der Begehung werden Kerzen angezündet, die drei Flaggen der vertretenen Nationen in einer Felsspalte damit erleuchtet.

Die Erfahrung der Höhlenbegehung bleibt eine prägende, auch während des Besuchs der Caverne du Dragon am nächsten Tag; ganz im Gegensatz zum alten Steinbruch ist dies der einzig museal aufbereitete Ort. So angenehm geräumig ist diese Höhle, so hell und medial komfortabel präsentiert. So ideal konzipiert für Klassenfahrten und Familienausflüge, bloß nicht zu beklemmend. Eine Museumsführerin erzählt gekonnt sachlich von Stellungskrieg und technischem Fortschritt. Von Granatsplittern, die bei der Detonation des Sprengstoffs noch nach mehreren Kilometern Flug tödliche Wunden in menschliche Körper reißen. Meutereien, Deserteure, Widerstandskämpfe werden nur im Nebensatz erwähnt. Vor dem inneren Auge taucht wieder das Bild der Hilferufe an den Wänden der Tauentzien-Höhle auf. Der Gegensatz enttäuscht. Das Museum bietet wenig Raum für Diskussion, sämtliche Punkte werden zügig abgehakt; die Frage nach der Loyalität, die sich unter der Erde aufzwang, findet hier nahezu kein Forum.

Zu naiv scheint die Hoffnung, vor Ort einen Dialog herzustellen über so unbequeme Begriffe wie die des Nationalismus, des Feindbilds, des Heldentums. Der Krieg ist mit großer Selbstverständlichkeit Teil der regionalen Geschichte, jeder Bewohner der kleinen Dörfer hat vermeintlich noch eine kleine Erinnerung an den gefallenen oder versehrten Großvater, eine Pfeife, ein Blechflugzeug. Jene Erinnerung wird weitergegeben innerhalb der Familie, ohne offizielle Institutionen. Im Speiselokal L'Estaminet  heißt das Bier des Monats La gueule cassée, benannt nach den Veteranen mit entstellten Gesichtern. Da scheint es bei Weitem zu viel verlangt, hier Pazifisten zu erwarten. Wie in den meisten ländlichen Gegenden gibt es wenig Industrie, damit verbunden wenig Arbeitsplätze und viel Verdrossenheit. Die Menschen hier, erzählt Franck Viltart, Geschichtswissenschaftlicher aus Reims, geben aus Unzufriedenheit den Rechten ihre Stimme. Und vergessen, dass das Nationaldenken schon früher Grund für völlige Zerstörung war. Ungehorsam sei kaum ein Thema, verrät Viltart beim abendlichen Spaziergang durch Laon, Opferrolle hingegen schon. Subtil bleiben die Fronten allgegenwärtig.

Nahe der Caverne empfangen uns im wiedererbauten Dörfchen Laffaux Bürgermeister Jean-Pierre Leguiel und seine Ehefrau überaus gastfreundlich. Es gibt ein großes Mittagessen, anschließend zeigt uns Leguiel die Stelle, an der bis vor hundert Jahren das alte Laffaux stand, erzählt stolz und ausführlich die Geschichte des Dorfes, schließt für uns die Dorfkirche auf, führt uns zum neu eröffneten Jardin des monuments. Auf alles wird affirmativ gezeigt, Fragen ergeben sich wenige. Beide sind überaus freundliche Menschen, beide sind nicht in Laffaux geboren oder aufgewachsen. Im Rathaus des Dorfes, neben dem Portrait des Präsidenten der Republik, hängt ein ausladendes Gemälde von Marianne, heroisch den Blick zum Himmel gerichtet, den herabstürzenden Kaiseradler siegesgewiss im Würgegriff.

Die Absurdität stellt offenbar ein Leitmotiv bei der Vergangenheitsbewältigung dar; dieser Gedanke verfestigt sich zumindest beim morgendlichen Spaziergang am darauffolgenden Tag; Monampteuil, der Ort unserer Unterkunft, ist noch mit Tau bedeckt. Die ersten Sonnenstrahlen lassen alles friedlich erscheinen. Von meinem Ausblick aus bis zum Horizont scheinbar unberührte Natur. Nach zwei Semestern intensiver Lektüre von Kriegsliteratur müsste sie mir hämisch erscheinen, diese völlige Stille an einem solchen Ort. Doch am letzten Tag unserer Reise steht die Erkenntnis, dass, sollte auch wenig Diskussion möglich sein, der Zugang zur Geschichte hier auf einer ganz individuellen Ebene stattfinden kann. Der Ort bietet die Ruhe, eigene Eindrücke zu sammeln, zu überdenken, auch zu verwerfen. Es ist Frieden eingekehrt. Und auch wenn noch weitere hundert Jahre vergehen, bleibt es erlaubt, zu hoffen, dass der Glaube an die patrie nicht für immer konserviert bleibt, sondern wenigstens neu diskutiert werden kann. Pour l'avenir de l'humanité, heißt es auf einer Gedenktafel in Cerny, die ein Überlebender seinem gefallenen Bruder gewidmet hat. Für die Zukunft der Menschheit. Irgendwann wird auch hier gegraben.