Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreisträger 2023

Was uns das Mitochondrium erzählt

Unser Blut erneuert sich schneller als unser Herz schlägt. In jeder Sekunde fließen ihm Millionen frischer Zellen zu, die absterbende weiße und rote Blutkörperchen ersetzen – bei einem gesunden Menschen sind es mindestens 500 Milliarden täglich. Sie entspringen aus verschiedenen Stammzellen im Knochenmark und reifen auf divergierenden Entwicklungslinien über mehrere Stufen aus. Ihre Abstammung und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen untereinander zu bestimmen, ist für die Medizin von größtem Interesse. Mit vertretbarem Aufwand und hinreichender Genauigkeit war das im menschlichen Organismus bisher allerdings kaum möglich. Dr. Dr. Leif Ludwig und sein Team haben ein verblüffend einleuchtendes Verfahren erfunden und entwickelt, um die Stammbäume einer Vielzahl menschlicher Blutzellen schnell, günstig, zuverlässig und gleichzeitig darzustellen.

Die Zellen unseres Blutes entstehen dem klassischen Modell nach auf vier großen Entwicklungslinien: Die erste Linie produziert die roten Blutkörperchen, also die Erythrozyten, die uns mit Sauerstoff versorgen, die zweite liefert die Thrombozyten, die Blutungen stoppen und unsere Wunden heilen lassen. In der dritten Linie entwickeln sich die weißen Blutkörperchen oder Lymphozyten, die uns mit angeborener Immunität ausstatten, wie beispielsweise die Granulozyten, in der vierten jene Lymphozyten, ohne die wir auf Infektionen nicht mit erworbener Immunität reagieren könnten, wie die B- und die T-Zellen. Auch wenn diese Einteilung immer mehr verfeinert wird, je weiter die Forschung voranschreitet, so gibt sie dieser doch seit mehr als hundert Jahren die Richtung vor.

Der Ursprung dieser Entwicklungslinien der Hämatopoese (Blutbildung) sind hämatopoetische Stammzellen (haematopoietic stem cells = HSC). Sie wurden vor gut 60 Jahren entdeckt und knapp 30 Jahre später erstmals isoliert. Diese im Knochenmark residierenden Zellen sind multipotent. Sie können sich also in unterschiedlich ausdifferenzierte Tochterzellen verwandeln. Gleichzeitig besitzen sie die Fähigkeit, sich selbst ständig zu erneuern. Weil Knochenmark und Blut relativ leicht zugänglich sind, avancierte die Hämatopoese zum bestuntersuchten System der Zellentwicklung und die HSC für lange Zeit zum bevorzugten Modell der Stammzellforschung.

Von Transplantationsversuchen zum Lineage Tracing
Wie sich der Stammbaum der Hämatopoese verzweigt, darüber gewann die Grundlagenforschung früher fast ausschließlich in Tierversuchen neue Erkenntnisse, bei denen die Transplantation von Knochenmark erprobt wurde. Daraus resultierte 1961 auch die Entdeckung der HSC. Die Humanmedizin profitierte davon durch die Entwicklung von Knochenmarkstransplantationen zur Behandlung bestimmter Formen von Blutkrebs, die in den 1970er-Jahren eingeführt wurden. Aus den klinischen Beobachtungen ergaben sich wiederum neue Einsichten in die Vorgänge bei der Blutbildung. All diese Einsichten blieben jedoch dadurch beschränkt, dass sie unter künstlichen Bedingungen stattfanden. Die transplantierten Stammzellen und ihre Nachfahren waren ja ihrem ursprünglichen Zusammenhang entrissen und in einen neuen versetzt worden. Dort ließ sich ihr Entwicklungspotential nachverfolgen, aber nicht eindeutig feststellen, wie sie sich unter natürlichen Umständen verhalten.

Dank der Fortschritte der Gentechnik wurde seit Anfang der 1980er-Jahre in der Entwicklungsbiologie jedoch ein wissenschaftlicher Werkzeugkasten erfunden und in jahrzehntelanger Arbeit mit immer spezifischeren Werkzeugen bestückt, der diese Begrenzung der hämatologischen Forschung zu überwinden half. Mit ihm werden in einem als Lineage Tracing bezeichneten Verfahren sowohl die Abstammung als auch das Differenzierungsschicksal von Zellen in vivo bestimmt. Dazu werden ihnen genetische Marker samt fluoreszierenden Molekülen eingepflanzt und deren Weitergabe von einer Zellteilung zur nächsten verfolgt. Diese Analysen bestätigen die herausragende Rolle hämatopoetischer Stammzellen als nachhaltige Quellen der Blutbildung auch im gesunden Organismus. Sie lassen aber vermuten, dass es viele solcher Quellen gibt, aus denen verschiedene, sich vielfältig verzweigende Entwicklungsflüsse entspringen. Aus einer HSC-Quelle entstehen vielleicht nur Thrombozyten, aus der anderen alle möglichen Blutkörperchen. Der Stammzellpool ist also heterogen, die Blutbildung ist polyklonal, die Verwandtschaftsverhältnisse der Zellen im Blut sind unübersichtlich. Sie zu entwirren, wäre aber wichtig, um zum Beispiel zu wissen, woher eine Leukämiezelle stammt, damit man sie besser bekämpfen kann, oder um Blutstammzellen therapeutisch effektiver einzusetzen. Dafür muss die humanmedizinische Forschung sich der Analyse natürlich vorkommender Marker bedienen. Denn ein Lineage Tracing mit künstlichen genetischen Markern beim Menschen vorzunehmen, verbietet sich von selbst.

Natürlichen Mutationen auf der Spur
Die naheliegendsten natürlichen Marker sind somatische Mutationen in der Erbinformation, wie sie nach jeder Zellteilung in der einen Tochterzelle vorkommen, in der anderen nicht. Solche Mutationen ergeben ein typisches genetisches Muster, das man wie einen Barcode über Zell-Generationen hinweg jeder Familienlinie zuordnen kann. Modernste Sequenziertechniken erlauben es, das gesamte Genom von Knochenmarks- und Blutzellen nach solchen Barcodes zu durchforsten. Solche Untersuchungen sind aber teuer, sehr fehleranfällig und in ihrer Aussagekraft beschränkt. Viel effizienter ist es, Mutationen in der Erbinformation der Mitochondrien zur Grundlage eines Lineage Tracing beim Menschen zu machen und diesen Ansatz mit einer Reihe neuester Einzelzell-Sequenzierungs-Technologien zu verknüpfen, die Aufschluss über den aktuellen Gesundheitszustand der untersuchten Zellen geben. Diesen wegweisenden Methoden-Mix, der die hämatologische Forschung aus einer Sackgasse führt, hat Leif Ludwig während seiner Postdoktorandenzeit am Broad Institute in Cambridge/USA erfunden. Als Emmy Noether-Forschungsgruppenleiter am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) und am Max Delbrück Center ist er dabei, sie technisch zu vervollkommnen.

Organellen mit eigenen Genen
Die Mitochondrien sind die Kraftwerke unserer Zellen. Sie produzieren aus Sauerstoff und Wasserstoff die Energie, die wir zum Leben brauchen. In den meisten Zellen kommen sie hundert- bis tausendfach vor und nehmen durchschnittlich ein Fünftel von deren Zytoplasma ein. Sie verfügen über eigene Gene, deren Informationsgehalt rund 16.600 Basenpaare beträgt. Dieser genetische Text lässt sich viel schneller auf Veränderungen überprüfen als die 3,2 Milliarden Buchstaben der gesamten Erbinformation, zumal er in jeder Zelle in vielen Kopien vorliegt. Das gilt umso mehr, als mitochondriale Gene eine bis zu 100fach höhere Mutationsrate aufweisen als die Gene des Zellkerns. Besonders zuverlässig sind Mutationen der mitochondrialen DNA (mtDNA) mit Hilfe von Einzelzell-Sequenzierungstechniken zu kartieren.

Diese Single-Cell-Omics-Techniken, die 2018 von der Fachzeitschrift Science zum Breakthrough of the Year gekürt wurden, beruhen darauf, dass komplexe Gewebe oder Gemische in einzelne Zellen aufgetrennt werden. Anschließend wird jede dieser Zellen mit Methoden der Mikrofluidik in einen Flüssigkeitstropfen verpackt und analysiert. Drei Aspekte sind dabei wichtig: Das messenger-RNA-Muster einer Zelle (ihr Transkriptom) zeigt, welche Gene in ihr kürzlich abgelesen worden sind. Ihr Proteom zeigt, welchen Proteinen diese Gene als Bauplan gedient haben. Die offenen Bereiche ihres Chromatins aber zeigen wie in einer live-Aufnahme, welche Gene gerade zum Ablesen bestimmter Proteinbaupläne freigelegt werden. Im Chromatin sind die insgesamt fast zwei Meter langen DNA-Fäden jedes Zellkerns auf Proteinperlen kompakt aufgewickelt. Nur in den vorübergehend entwirrten Bereichen dieses Knäuels können Gene abgelesen werden. ATAC-Seq heißt die Technik, die diese Bereiche identifiziert, indem sie sie mit einem Enzym, der Transposase Tn5, markiert.

Zwei Fliegen mit einer Klappe
Nun ist die mtDNA nicht annähernd so dicht aufgewickelt wie die Kern-DNA – mit der Konsequenz, dass fast all ihre Gene von Tn5 markiert werden. In klassischen ATAC-Seq-Protokollen galt mtDNA deshalb als ärgerliche Verunreinigung. Nicht so für Leif Ludwig. Im Gegenteil: ATAC-Seq ermöglichte ihm, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es filterte die gewünschten mitochondrialen DNA-Daten aus der Milliardenflut heraus und lieferte ihm gleichzeitig aus dem Kerngenom kaum mehr als genau jene Informationen, die er brauchte, um zu wissen, mit welcher Art von Blutzelle er es zu tun hatte und in welchem Zustand sich diese gerade befand. Den Proof-of-Concept, dass das von ihnen entwickelte Verfahren zur Ermittlung der zellulären Verwandtschaftsbeziehungen (Clonal Tracking) im Verlauf der Blutbildung tausendmal effizienter und zudem viel aussagekräftiger ist als Verfahren, die zu diesem Zweck das gesamte Genom sequenzieren, publizierten Ludwig und sein Team 2019.

Bereits kurz darauf gelang es ihnen, die mitochondriale Spurensuche in vivo auf viele Einzelzellen unterschiedlicher Art gleichzeitig auszudehnen. Sie entnahmen einem gesunden 47-jährigen Spender 7.474 hämatopoetische Stamm- und Vorläuferzellen aus dem Knochenmark und drei Monate später 8.591 mononukleäre Zellen aus dem Blut. Mit ATAC-Seq analysierten sie die mtDNA dieser Zellen und ordneten sie auf der einen Seite 12 auf der anderen Seite 14 unterschiedlichen Zellarten zu, identifizierten also beispielsweise multipotente Vorläuferzellen in der Knochenmarksprobe und Monozyten in der Blutprobe. Dabei fanden sie 429 mt-DNA-Mutationen, die in jeweils mindestens fünf Zellen vorkamen. So entdeckten sie 257 verschiedene Zell-Familien (Klone) mit einem je eigenen Mutationsprofil, die ihren Ursprung wahrscheinlich in 257 verschiedenen Stammzellen haben. In ähnlicher Weise haben Ludwig und sein Team diese neue Form der Diagnostik auch an einzelnen Patienten erprobt.

Die Nachkommen einzelner Stammzellen im Blick
Insgesamt dürfte die Zahl der Stammzellen, die aktiv zur Blutproduktion von rund 500 Milliarden Blutzellen täglich beitragen, bei 100.000 bis 200.000 liegen, wobei es nicht wenige gibt, die erst bei akutem Bedarf wie einem Blutverlust oder einer Entzündung aus einer Art Bereitschaftsschlummer geweckt werden. Prinzipiell versetzt die von Leif Ludwig erfundene Kombination von mtDNA-Sequenzierung mit Single-Cell-Omics-Technologien die Hämatologie und Onkologie in Forschung und klinischer Praxis zum ersten Mal in die Lage, die Aktivität einer einzelnen Stammzelle und die Kennzeichen von deren Nachkommenschaft relativ einfach und preiswert zu bestimmen. Eine solche Stammbaumanalyse eröffnet die Möglichkeit, die Abzweigungen zu finden, an denen während der unaufhörlichen Bildung neuer Blutzellen Krebs oder degenerative Veränderungen entstehen und dort korrigierend einzugreifen. Darüber hinaus lassen sich mit Ludwigs Methode auch mitochondrial vererbte Krankheiten wie etwa das MELAS-Syndrom umfassender als bisher untersuchen.

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