hsaka 2024: Jüdisches Leben in Deutschland

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​Jüdisches Leben in Deutschland

Jüdische Kultur und Deutschland sind untrennbar miteinander verbunden. Jüdisches Leben in Deutschland existiert seit über 1700 Jahren, sehr viel länger, als es irgendein „Deutschland“ gibt. Jüdinnen und Juden waren dabei stets auch Akteure und haben historische Prozesse mitgestaltet, von den Ideen der Aufklärung über die Musik der Romantik bis zur Literatur der Weimarer Republik.

1700 Jahre sind aber auch 620.000 Tage, in denen sich Alltagsleben im privaten und öffentlichen Raum abspielte: Arbeiten, Lieben und Streiten, z.B. darüber, wie die eigene Kultur in einer allzu häufig skeptisch bis feindlich eingestellten Umgebung gepflegt werden kann. Im Kurs wollen wir möglichst viele Facetten beleuchten: Wie sah und sieht jüdisches Leben in Deutschland aus? War das Zusammenleben immer von Konfrontation und Ausgrenzung geprägt? Seit wann gibt es Antisemitismus? Und wer (hat) bestimmt, wer oder was jüdisch ist?

Mit Hilfe unterschiedlicher Quellen und Zugänge sollen jüdische Stimmen zu Wort kommen. Dadurch erweitern wir den herkömmlichen Blick auf die jüdische Geschichte in Deutschland, indem wir Jüdinnen und Juden nicht nur als Objekte und Opfer von Geschichte thematisieren. So dekonstruieren wir antisemitische Stereotype, die heute noch beispielsweise im Nahostkonflikt verwendet werden.

Geld, Getto, gelber Fleck? Interkulturelles Zusammenleben im Mittelalter

Sind „Geld, Getto, Gelber Fleck“ wirklich alles, was jüdisches Leben im Mittelalter beschreibt? Vielleicht habt ihr euch schon gedacht, dass das Zusammenleben von Juden und Christen im Mittelalter doch ganz anders aussah.

Tatsächlich lebten Juden und Christen auch friedlich mit- und nebeneinander: Sie teilten sich Brunnen und Badehäuser und nahmen auch an Festlichkeiten des kulturellen Anderen teil. Die anscheinend strikte Trennung zwischen christlichen und jüdischen Wohnvierteln unterschied sich regional und konnte verschieden gestaltet sein. Sogar die Vorstellung, dass lediglich Juden Geld verliehen, ist völlig falsch.

Diese unvollständigen Vorstellungen gründen auf bestimmten Narrativen, und diese Narrative wollen wir gemeinsam identifizieren, indem wir verschiedene Schulgeschichtsbücher vergleichen. Vor allem wollen wir historische Quellen nutzen, um uns jüdischen Perspektiven des Mittelalters anzunähern. Nur so können wir unser Wissen über jüdisch-christliches Zusammenleben kritisch reflektieren und so besser verstehen, warum es diese Narrative überhaupt gibt.

Abb.: Holzschnitt Christ und Jude (1479); Quelle: Haeberli, Der jüdische Gelehrte im Mittelalter, Ostfildern 2010, S. 285 Abb. 16; Murkrona (Public Domain); Goldmünzen (Public Domain); Davidstern (Jacek Proszyk, CC-BY-SA 4.0)

Jüdische Emanzipation durch Aufklärung?

Die europäische Aufklärung ließ alle religiöse Differenzen und Diskriminierung verschwinden, die Vernunft ersetzte als beherrschendes Prinzip das bisherige Denken. Auf den Punkt bringt dies Friedrich der Große, der mit seinem allseits bekannten und viel zitierten Spruch, „jeder soll nach seiner Façon selig werden“, für die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung eintrat. So fragwürdig dieses weit verbreitete Narrativ auch zu sein scheint, stellt sich uns als Akademie-Historiker*innen die Frage, wie es eigentlich mit einer jüdischen Aufklärung aussah? Diese könnte uns eine andere Perspektive auf die Geschichte bieten.

In der Tat gab es eine jüdische Aufklärung, die Haskala genannt wird. Sie hatte eine Trennung von Staat und Religion, aber auch eine innere Reform des Judentums zum Ziel. Einer der berühmtesten Vertreter dieser Bewegung war der Gelehrte Moses Mendelssohn. Uns stellen sich nun einige Fragen: Führte die (jüdische) Aufklärung wirklich zu einer Emanzipation der Jüd*innen und Juden? Wie sahen die Ideen und Forderungen der jüdischen Aufklärung aus? Gab es innerjüdische Widerstände gegen die Integration der jüdischen Minderheit in die christliche Mehrheitsgesellschaft? Wie unterschieden sich männlichen und weiblichen Juden bezüglich ihrer Emanzipation?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, werden wir uns zunächst anhand verschiedener Medien mit der Lage der jüdischen Bevölkerung im deutschsprachigen Raum zur Zeit der Aufklärung vertraut machen. Wir wollen ein besseres Verständnis für jüdische Perspektiven erhalten, indem wir Moses Mendelssohns Ideen und historischen Quellen untersuchen. Gemeinsam werden wir herausfinden, wie Jüd*innen und Juden ihr Verhältnis zwischen ihrem Deutschsein und ihrem Jüdischsein, sich also als deutsche Juden — oder eben der jüdische Deutsche — verstanden.

Abb.: Mendelssohn mit Lessing & Lavater (Urheber: D. Oppenheim, Public Domain; Holzstich von C. Flammarion (Public Domain); Mendelssohn (Urheber: A. Graff, Public Domain)

​​Religiöse Differenzen und Konflikte zwischen liberalen und orthodoxen Strömungen in Deutschland

„Zwei Juden, drei Meinungen“ ist ein bekannter Spruch. Doch was ist damit gemeint? Im Geschichtsunterricht entsteht oft ein Bild, in dem durch einen Fokus auf die Opferrolle von Jüd:innen die Individualität in den Hintergrund gerät. Dies wird dem Judentum nicht gerecht, seine Geschichte ist eine Geschichte des Konflikts. Streitthemen sind zum Beispiel: „Sollten auch Frauen Rabiner:innen werden können?“ Erst im Jahr 1935 wurde mit Regina Jonas die erste Frau weltweit in Offenbach zur Rabinerin ernannt.

Zu diesen und vielen weiteren Fragen gibt es diverse Meinungen im Judentum. Der Talmud, eines seiner bedeutendsten Schriftwerke, umfasst zum Beispiel die Diskussionen jüdischer Gelehrter aus mehreren Jahrhunderten. Besonders zwischen orthodoxen und liberalen Jüd:innen gehen die Meinungen zur Halacha, den Ge- und Verboten der Torah, weit auseinander. Doch auch die reine Einteilung des Judentums in Orthodox und Liberal wird seiner Diversität nicht gerecht. Besonders spannend ist dabei die Betrachtung der religiösen Differenzen zwischen deutschen Jüd:innen, denn im Deutschland des 19. Jahrhunderts liegen die Ursprünge des Reformjudentums.

Wir werden die Vielfalt religiöser Praktiken und die teilweise sehr kontrovers geführte Debatten innerhalb des deutschen Judentums betrachten. Besondere Aufmerksamkeit werden wir hierbei der Rolle einzelner Akteur:innen zu verschiedenen Zeiten schenken. Nicht zuletzt wollen wir auch die Frage stellen: „Was bedeutet jüdisch sein in Deutschland – mit all seinen Facetten?“

Abb.: Regina Jonas; Quelle: Yad Vashem

Erfahrungsberichte. Jüdische (Auto-)Biographien

Woher weiß jemand, dass er*sie jüdisch ist? Kann man einfach jüdisch werden? Kann man fühlen jüdisch zu sein? Spürt man das in sich drin oder bestimmt das jemand anderes? Wer definiert das eigentlich? Historiker*innen, Religionswissenschaftler*innen, Ethnolog*innen – oder doch jede*r selbst? Wir könnten uns ja mal anschauen, was Juden/Jüdinnen selbst zu ihrem Jüdischsein sagen.

Historische Selbstaussagen zu diesen Fragen lassen sich finden, wenn man danach sucht. Eine Möglichkeit sind autobiographische Texte, die einen besonderen Einblick in das Selbstbild eines Menschen bieten. Hieran kann untersucht werden, wie sich die Person selbst kulturell einordnet oder wie sie ihr Umfeld mit seinen Zuschreibungen wahrnimmt und annimmt oder ablehnt. Diese Eigenwahrnehmung steht natürlich im Zusammenhang der Zeit. Daher bietet es sich an unsere Fragen an Vertreter*innen verschiedener Zeiten zu stellen und so unterschiedliche Einblicke in die Selbstwahrnehmung jüdischer Menschen in Deutschland zu erhalten. Im Geschichtsunterricht werden selten oder nie autobiographische Texte behandelt. In der Regel werden Aussagen von Außenstehenden betrachtet, die aber keinen Aufschluss über das Selbstverständnis historischer Personen geben. Identität weicht im Schulbuch den Berichten über große Ereignisse und Entwicklungen und wie sich bestimmte Gruppen zu diesen Zeiten verhalten haben.

Wir werden darum autobiographische Texte zur Hand nehmen, um unser bisheriges Bild von jüdischen Menschen in Deutschland mit Eigenbeschreibungen zu ergänzen. Durch die Beschäftigung mit diesem Material hören wir die Stimmen dieser Menschen und können anfangen die Fragen nach der Selbstwahrnehmung und kultureller oder religiöser Identität anhand verschiedener Beispiele zu beantworten.

Abb.: Arkadij Khaet (Foto: Agentur Homebase); Arnold Schönberg (Foto: Arnold Schönberg Center Wien); Quelle: Schönberg-Gesamtausgabe; Mascha Kaléko (Foto: Maria Austria/MAI); Quelle: Tulipan-Verlag

Jüdische Gruppe Frankfurt

Was haben eine Wassermelone und die 20-Uhr-Nachrichten gemeinsam? Die Antwort: Beide verkürzen tagespolitische Themen. Die Wassermelone erlaubt es uns, mit einem Emoji unsere Solidarität mit den Menschen in Palästina auszudrücken. Sie ermöglicht es uns, in einem Krieg schnell und einfach Position zu beziehen. Aber der Krieg, um den es geht, ist
nicht in Deutschland, und er lässt sich auch nicht durch das Posten von Emojis lösen. Die Frage, die bleibt, ist, warum es in Deutschland so wichtig scheint/ist, eine Position zu beziehen?

Die Politik Deutschlands und die des Staates Israel sind seit dessen Gründung fest miteinander verwoben. Anfangs war es in Israel verpönt, dass jüdische Personen nach Deutschland reisten, später regulierten Friedensverhandlungen die deutsch-israelische Beziehung und seit Israel sein Staatsgebiet durch Kriege vergrößerte ist wiederum die eigene Position zu Israel eine der heftigsten Diskussionen der deutschen Linken. Damals wie heute wird oft gefordert, sich einer Seite zuzuordnen - Bist du pro Israel oder gegen Israel? Jede Aufteilung in schwarz und weiß vergisst aber, dass (internationale) Konflikte/Kriege wesentlich komplexer sind. Kritik an anderen Staaten fällt uns oft leicht, aber Kritik am eigenen Staat zu üben, erfordert viel Mut. Wie schwer muss es also jüdischen Personen gefallen sein, Kritik an dem Staat zu üben, der Hoffnungsträger für viele von ihnen war und ist? Und wie kann eine solche Kritik ausgesehen haben?

Im Kurs wollen wir uns diesen Frage widmen und herausfinden, wie in den 60ern bis 80ern Kritik an Israel geübt wurde. Was unterscheidet die Kritik jüdischer Personen in Israel und Deutschland von der deutscher nicht-jüdischer Personen? Fokuspunkt sollen dafür Quellen um einige Mitglieder der „Jüdischen Gruppe Frankfurt“ sein, einer Gruppe jüdischer Intellektueller, die mit ihrer Kritik an Israel Schlagzeilen gemacht haben. Zum Beispiel Biographien, Zeitschriftencover aus der Zeit und Bilder von Demonstrationen. Auf diese Weise wollen wir versuchen, zu verstehen, warum es so wichtig ist, heute über die Anfänge Israels und linken Antisemitismus zu sprechen..

Abb.: Der israelische Botschafter Asher Ben-Natan mit Dan Diner, 9. Juni 1969 (Inst. f. Stadtgeschichte FFM, Foto: Kurt Weiner); KD Wolff mit Megaphon neben Botschafter Asher Ben-Natan, 9. Juni 1969 (Inst. f. Stadtgeschichte FFM, Foto: Kurt Weiner); Quelle: Z. Aschrafi (ZHF)