von Estelle Rode (Text und Fotos)

 

Wenn man an Orte des Ersten Weltkrieges denkt, dann fallen einem vor allem Versailles – aufgrund des nach dem Krieg dort geschlossenen Versailler Vertrages und dessen Bedeutung für die Geschehnisse der nachfolgenden 25 Jahre –, und Verdun ein – als Ort, an dem die französische Armee die deutsche Armee unter der Führung von Maréchal Pétain besiegt und vertrieben hat. Am allerwenigsten wird man jedoch an den Chemin des Dames im Departement von Aisne denken, der in den bisherigen Diskursen wenig Beachtung erfahren hat und erst in den letzten Jahren langsam von Historikern erschlossen wird. Der Grund für die fehlende Anerkennung dieser Gegend ist u.a. die fehlgeschlagene Offensive unter General Nivelle im April 1917, die wiederum Widerstand und Meutereien hervorrief. Lösen diese Tatsachen bei einigen Franzosen heute noch Schamgefühle aus, weshalb lieber darüber geschwiegen wird, so war dies für mich hingegen ein Thema, für das ich mich bereits vor der Exkursion interessierte und infolgedessen vor allem darauf während unserer Fahrt mein Augenmerk richtete.

Gleich am Folgetag unserer Anreise holte uns der Historiker Franck Viltart von unserer Unterkunft in Monampteuil ab. Mit ihm verbrachten wir den Tag und erkundeten wichtige Orte der Gegend. Dabei kamen wir auch zum Plateau de Californie mit seinem an alle Kriegssoldaten gerichteten Mahnmal von Haïm Kern.

Diese Stelle, an der sich früher das kleine, während des Krieges völlig zerstörte Dorf Craonne befand, ist einer der zentralen Orte, an denen die Nivelle-Offensive stattgefunden hat. Die Gegend wurde zur roten Zone deklariert. Dies bedeutet, dass dort nichts gebaut bzw. angebaut werden darf – weshalb das neue Craonne sich an anderer Stelle befindet –, und es wird stark davon abgeraten, die Wege zu verlassen oder gar zu graben. Wenngleich sich die Natur in den letzten hundert Jahren erholen konnte, das Gebiet sehr grün und bewachsen ist und nur an der sehr unebenen Form der Landschaft zu erahnen ist, was sich einst dort abgespielt hat, so sind die Schäden und deren Nachwirkungen noch groß. Zu zahlreich sind die sich im Boden befindenden und teilweise noch scharfen Bomben- und Granatenreste. Generell beeinflusst der Erste Weltkrieg das Leben der Menschen in der gesamten Gegend um den Chemin der Dames noch heute in starkem Maße. Überall muss man mit scharfer Munition rechnen; regelmäßig sterben Kühe an Stacheldrahtstücken, die sie aus Versehen verschluckt haben; das Grundwasser ist aufgrund des hohen Bleigehaltes nicht trinkbar und erst letztes Jahr haben Leute die Leiche eines Soldaten beim Champignonpflücken gefunden.

Wird ein Gebiet jedoch zur roten Zone erklärt, dann heißt dies, dass der Krieg dort besonders stark gewütet hat, was die oben genannte Zahl an Todesopfern unterstreicht. Wenn man dies alles hört, dann verwundert es nicht, dass laut Informationstafel am Plateau de Californie Soldaten aus 68 Divisionen, 136 Regimentern und 23 Bataillonen beschlossen haben, kollektiv Befehle zu verweigern, zu desertieren, ihren Posten zu verlassen oder sich selbst zu verstümmeln. In dieser unruhigen Zeit ertönte ebenfalls häufig die aufgrund ihrer antimilitaristischen und systemkritischen Parolen vom Militär verbotene und die Situation der Soldaten widerspiegelnde „Chanson de Craonne“. Natürlich versuchten die militärischen Befehlshaber solche Tendenzen zugleich in ihrem Keim zu ersticken, da diese die Kriegsmoral brachen und man befürchtete, dass weitere Soldaten sich dieser Bewegung anschließen würden. Um dem entgegen zu wirken, sah man sich dazu gezwungen, Exempel zu statuieren und die Meuterer bzw. die vermutlichen Anführer einer Gruppe von Meuterern vor versammelter Mannschaft zu erschießen.

Franck Viltart berichtete von einer Gruppe von Soldaten, die den Eingang einer der zahlreichen Höhlen um den Chemin des Dames, in denen die Soldaten teilweise lebten, teilweise Krieg führten, versperrten, um zu verhindern, dass noch weitere Kameraden ihr Leben an der Front ließen. Der Aufstand wurde zerschlagen und der Soldat Albert Truton, den man für die treibende Kraft dieser Meuterei hielt, wurde zur Strafe erschossen. Normalerweise haben die zur Strafe erschossenen Soldaten kein Anrecht darauf, auf einem Militärfriedhof beerdigt zu werden. Aufgrund eines Versehens findet man jedoch das Grab von Albert Truton auf dem Friedhof von Cerny-en-Laonnois, den wir ebenfalls im Laufe des Nachmittages besichtigt haben.

Laut Viltart wurden von ca. 650 aufgrund von Meutereien erschossenen, französischen Soldaten allein 27 in dieser Gegend hingerichtet. Auch wenn diese Tatsachen zur dunklen Seite der Geschichte gehören und heute noch gerne verschwiegen werden, so beginnt indes langsam ein Prozess des Gedenkens an diese Soldaten, die sich gegen den Strom stellten und sich weigerten, weiterhin an diesem grausamen und viele Todesopfer fordernden Krieg teilzunehmen. Mir persönlich ist während der Exkursion klar geworden, dass die Art und Weise, wie Geschichte im offiziellen Diskurs weitergegeben und vermittelt wird, immer von Interessen geleitet ist, wodurch die Notwendigkeit entsteht, dies immer kritisch zu hinterfragen und auch die andere Seite der Medaille zu beleuchten.