Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreisträger 2013

Hirnforschung - Vom Sinneseindruck zum Verhalten

Sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken: Mit diesen fünf Sinnen nehmen wir die Umwelt wahr und reagieren darauf. Wir greifen nach etwas, was wir sehen. Wir folgen einem einladenden Geräusch, fliehen vor beißendem Rauch, spucken etwas Ungenießbares aus und ertasten den Weg im Dunkeln. Die Art, wie das Gehirn die Sinnesinformation verarbeitet, führt in jedem Fall zu einer sehr präzisen Bewegungsreaktion.

Diese Aktivität wird von den Nervenzellen, Synapsen und den neuronalen Netzwerken der Hirnrinde bewältigt und führt zu interessanten Fragen, die fast schon philosophischer Natur sind. Wie unterscheidet das Gehirn zwischen Sinneseindrücken, die von außen an uns herangetragen werden und solchen, die wir selbst erzeugen? Habe ich gerufen oder hat ein anderer gerufen? Das sind die Fragen, mit denen sich Dr. James Poulet vom Max-Delbrück- Centrum für Molekulare Medizin Berlin-Buch & NeuroCure Neurosciene Research Center (NWFZ) seit über zehn Jahren beschäftigt. Poulet ist der Träger des diesjährigen Paul Ehrlichund Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreises. Der junge britische Wissenschaftler erhält die Auszeichnung, weil „seine Forschung dazu beiträgt, die neuronalen Grundlagen des Verhaltens zu verstehen“, so der Stiftungsrat der Paul Ehrlich-Stiftung in seiner Begründung. Der Neurobiologe konzentriert sich auf freiwilliges Verhalten, das nach irgendeiner Entscheidung verlangt, nicht auf stereotype Reflexbewegungen. Die Hand von einer heißen Oberfläche zu ziehen, ist eine Reflexbewegung, während die Beantwortung einer Berührung eine freiwillige Reaktion ist. „Wir wollen wissen, wie neuronale Aktivitäten das Verhalten verändern“, erklärt Poulet. „Wir interessieren uns für die kausale Beziehung zwischen der Sinneswahrnehmung, der Aktivität der Nervenzellen und der Bewegungsantwort, die daraus resultiert“. Poulet hat zuerst mit Grillen gearbeitet, jetzt arbeitet er mit Mäusen. Er ist vor allem an zwei Gehirnregionen interessiert, dem primären somatosensorischen Kortex und dem Motor-Kortex. Dort werden die Sinneswahrnehmungen in Verhaltensreaktionen umgemünzt. Poulet hat die Mäuse so trainiert, dass sie ihre Vorderbeine ausstrecken um damit ihre unmittelbare Umgebung zu erforschen. Mit neuen optischen und elektrophysiologischen Techniken schaut er direkt ins Gehirn der wachen, aktiven Tiere und zeichnet die Aktivität spezifischer Nervenzellen auf und beeinflusst diese Nervenzellen. „Diese Prozesse bilden die Grundlage für ein gesundes Verhalten und sind bei bestimmten Krankheiten gestört“, sagt Poulet. Wenn wir bestimmen können, welche neuronalen Signale der Sinneswahrnehmung zugrunde liegen und wie diese Signale mit einer passenden Bewegungsreaktion verbunden werden, hilft uns das vielleicht, gesunde und gestörte Aktivitäten zu verstehen. Bevor man weiß, was krankhaft ist, muss man erst wissen, was normal ist.“

Warum können wir uns nicht selber kitzeln?

Poulet hat sich zuerst damit beschäftigt, wie das Gehirn zwischen selbst- und fremderzeugten Sinneseindrücken unterscheidet. Berühre ich meine Hand selbst oder werde ich berührt? Vergrößert sich die Distanz zwischen mir und meinem Gegenüber, weil ich mich entferne oder weil sich mein Gegenüber entfernt? Das Gehirn muss zwischen diesen Situationen unterschieden können, weil sie ein unterschiedliches Verhalten hervorrufen. Das Gehirn nutzt für diese Aufgabe einen internen Rückkopplungsmechanismus, der auch dafür sorgt, dass wir beim Schreien keinen Hörschaden bekommen oder uns selbst nicht kitzeln können. Während wir uns beim Gekitzelt-Werden fast totlachen, wird uns das Selberkitzeln nicht einmal ein müdes Lachen entlocken. Dieser intelligente Rückkoppelungsprozess heißt im Englischen „corollary discharge“ und Poulet hat ihn bei zirpenden Grillen untersucht. In lauen Sommernächten locken männliche Grillen die Weibchen durch ein rhythmisches Reiben ihrer Deckflügel an. Dieses Zirpen hat eine Lautstärke von hundert Dezibel und kann mit dem Krach einer Kettensäge, dem Donnern von Diskomusik oder dem Dröhnen eines Presslufthammers verglichen werden. „Wir haben uns gewundert, warum die männlichen Grillen von dem Krach nicht taub werden“, erklärt Poulet. „Wie blenden sie ihn aus?“. Der Nachwuchspreisträger konnte zeigen, dass die männlichen Grillen die für das Hören zuständigen Nervenzellen sehr gezielt abschalten, sobald sie mit dem Zirpen beginnen und diese Blockade sofort wieder aufheben, wenn sie mit dem Zirpen aufhören. Dieses An- und Abschalten schützt die Grillen vor Taubheit, aber lässt sie gleichzeitig noch das Herannahen eines Feindes zu hören. Das ist äußerst wichtig, denn der laute Paarungsgesang lockt nicht nur die interessierten Weibchen an, sondern gibt auch Feinden und Rivalen den Standort des Männchens preis. Poulet und seine Kollegen identifizierten auch die konkrete Nervenzelle, die das Gehör abgeschaltet - das sogenannte „Collary Discharge Neuron“. Andere Lebewesen haben auch solche Neuronen, aber man weiß fast noch nichts darüber.

Poulet und seine Kollegen haben des Weiteren untersucht, wie die Weibchen auf das Zirpen reagieren. Die Frage lautete dabei, ob sich die Weibchen den Männchen in einer Art Reflexbewegung nähern oder ob die Annäherung eine Reaktion auf eine komplexe Geräuscherkennung im Gehirn der Weibchen ist. Poulet zeigte, dass die Weibchen auf individuelle Töne mit einer Annäherungsbewegung reagieren, die eher einem Reflex gleicht als einem komplexen Verhalten. Für eine reflexartige Annäherung spricht auch, dass die Weibchen auf ein beliebiges Geräusch reagieren, wenn der Bewegungsablauf erst einmal durch den richtigen Gesang angestoßen worden ist. Ab diesem Punkt ist nur noch der Laut wichtig. Es muss gar nicht mehr der Richtige sein.

Was unterscheidet Dösen vom Hellwachsein?

James Poulet interessiert sich auch für das, was weithin als Gehirnzustand bekannt ist. Was damit gemeint ist, kann man leicht an einem Beispiel verdeutlichen. Jemand sitzt dösend in der Sonne, hat die Augen geschlossen, denkt an nichts Besonderes und plötzlich wird er durch ein äußeres oder inneres Signal aufgeschreckt. Das kann ein eigenartiges Geräusch sein, ein unerwarteter Luftzug oder die Erinnerung an einen verpassten Termin. Von einer Sekunde zur anderen ist derjenige, der gerade noch gedöst hat, hellwach. „Wir haben uns gefragt, was in einer solchen Situation im Gehirn passiert“, sagt Poulet. „Wie unterscheidet sich der eine Gehirnzustand von dem anderen?“ Dass es unterschiedliche Gehirnzustände gibt, hat Hans Berger, der Erfinder des EEGs, 1929 erstmalig gezeigt. Ein EEG misst Hirnströme und jemand, der still sitzt und die Augen geschlossen hat, hat andere Hirnströme, als jemand, der sich mit offenen Augen umschaut. Poulet hat bei Mäusen, die wach sind und still sitzen und bei Mäusen, die ihre Schnurbarthaare bewegen, etwas Ähnliches gefunden. Bei den stillsitzenden Mäusen werden die Nervenzellen in einem rhythmischen und geordneten Muster erregt, während die Erregung bei den sich aktiv bewegenden Mäusen sehr viel weniger synchronisiert ist. Sie können damit offensichtlich flexibler auf die anstehenden Aufgaben reagieren. „Wir wissen, dass Gehirnzustände ein Teil der normalen Gehirnfunktion sind“, sagt Poulet. Unser Ziel ist herauszufinden, wie sie zustande kommen und welche Rolle sie bei der Regulation der Sinneswahrnehmung und dem Bewegungsverhalten spielen.“

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