Die Bedeutung des Erfahrungswissens im Arbeitsalltag

Dissertationsprojekt

Martina Wohlfart-Schäfer (Dipl. Päd. | M.A. Bildung und Medien: eEducation | M.A. Soziologie)

E-Mail: wohlfart-schaefer@em.uni-frankfurt.de

Durch zunehmende Automatisierung und Digitalisierung, in Deutschland unter dem Begriff Industrie 4.0 gefasst, verändert sich die Arbeitswelt rasant (vgl. Hirsch-Kreinsen/Niehaus 2018: 33ff.). Dies macht nicht nur „eine ständige Anpassung der Qualifikation erforderlich“ (Mikl-Horke 2017: 28), sondern setzt voraus, dass die Beschäftigten immer neue Kompetenzen erwerben und eine permanente Lernbereitschaft über die Ausbildung hinaus aufbringen (vgl. ebd.; Dehnbostel 2018: 580ff.; Stich/Gudergan, Senderek 2018: 147ff.). Gleichzeitig stehen die Beschäftigten tagtäglich vor Herausforderungen in der komplexer werdenden Arbeitswelt, die nicht allein durch fachliche Fähigkeiten zu lösen sind, da neben objektivierenden auch ein subjektivierendes Handeln erforderlich ist (vgl. Böhle 2017: 278). Böhle entwickelt dazu die Theorie des subjektivierenden Arbeitshandelns, die besagt, dass Fachkräfte bei aufkommenden technischen Schwierigkeiten oder Unwägbarkeiten durch subjektives Arbeitshandeln in der Lage sind, diese auszuräumen und einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten (vgl. ebd.: 279ff.). Eine zentrale Bedeutung wird dabei dem Erfahrungswissen zugewiesen, das sich „in einem Gefühl und einem Gespür für Technik sowie besonderen Kenntnissen von Materialeigenschaften zeigt“ (Böhle 2018: 180) und welches das menschliche Arbeitsvermögen als Qualität bei fortschreitender Technisierung unersetzbar macht (vgl. ebd.; Pfeiffer/Suphan 2018: 282ff.).

Im Rahmen dieser Promotion wird danach gefragt, in welcher Weise Erfahrungswissen im Arbeitsalltag relevant wird.

Mittels einer empirischen Untersuchung durch qualitative Experten*innen-Interviews (Einzel- & Gruppeninterviews) soll herausgefunden werden, welche Bedeutung Erfahrung im Arbeitsalltag hat, welcher Stellenwert der Erfahrung in Lernprozessen am Arbeitsplatz zukommt und wie die Belegschaft mit Erfahrung und Lernen umgehen. Die Interviews werden mit Beschäftigten im gewerblich-technischen Bereich durchgeführt und mit der Verfahrenslogik der Grounded Theory analysiert (vgl. Glaser/Strauss 2010; Corbin 2011a; Corbin 2011b; Corbin/Strauss 2015).

Theoretische Bezugspunkte sind zum einen der symbolische Interaktionismus, wo Erfahrungen, die Menschen machen und deuten in einen Handlungskontext gestellt werden (vgl. Mead 1969: 86ff.; vgl. Blumer 2013: 80ff.); zum anderen  die pragmatistische Lerntheorie von Dewey, bei der Erfahrung in einen komplexen Reflexionsprozess eingebunden ist, der durch eine Herausforderung in Gang gesetzt wird und eine Problemlösung bzw. eine Handlung ermöglicht (vgl. Dewey 1933: 196ff; Dewey 1986: 140ff.).

Weitere Bezugspunkte sind die Theorien der Communities of Practice von Wenger (1990) und das situierten Lernen nach Lave/Wenger (1998), die die Erfahrungsräume von Gruppen hinsichtlich des Lernens am Arbeitsplatz behandeln, Lernen als sozialen Prozess sehen und nach deren Auswirkungen auf Interaktion und Hierarchie fragen.

Mit dieser Promotion soll das Lernen im Arbeitsalltag, die Bedeutung von Erfahrungslernen und Erfahrungswissen in Zusammenhang mit der Erwachsenenbildung näher erforscht werden.

Literatur

Blumer, Herbert (2013): Symbolischer Interaktionismus. Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.

Böhle, Fritz (2017): Subjektivierendes Arbeitshandeln. In: Hartmut Hirsch-Kreinsen/Heiner Minssen (Hrsg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. 2. Auflage. Baden-Baden: edition sigma, 278-281.

Böhle, Fritz (2018): Arbeit als Handeln. In: Fritz Böhle/Günter G. Voß/Günther Wachtler (Hrsg.): Handbuch Arbeitssoziologie. Wiesbaden, Springer, 171-200.

Corbin, Juliet (2011a): Grounded Theory. In: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki/Meuser, Michael (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. 3., durchgesehene Auflage. Opladen, Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, S. 70-75.

Corbin, Juliet M. (2011b): Lernen konzeptionell zu denken. Juliet M. Corbin im Gespräch mit César A. Cisneros-Puebla. In: Günter Mey/Katja Mruck (Hrsg.): Grounded Theory. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 79-88.

Corbin, Juliet/Strauss, Anselm (2015): Basics of Qualitative Research. Techniques and Procedures für Developing Grounded Theory. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage publication.

Dehnbostel, Peter (2018): Lernen im Prozess der Arbeit als Gegenstand der Organisationspädagogik. In: Michael Göhlich/Susanne Maria Weber/Andreas Schroer (Hrsg.): Handbuch Organisationspädagogik. Wiesbaden: Springer VS, S. 580-591.

Dewey, John (1933): How we think. Boston: Heath.

Dewey, John (2011): Democracy and Education. Simon & Brown.

Dewey, John (1986): Erziehung durch und für Erfahrung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (2010): Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. 3. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber.

Hirsch-Kreinsen, Hartmut/Niehaus, Jonathan (2018): Industrie 4.0 und Wandel von Industriearbeit -  revisted. Forschungsstand und Trendbestimmungen. In: Hartmut Hirsch-Kreinsen/Peter Ittermann/Niehaus, Jonathan (2018): Digitalisierung industrieller Arbeit.           2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Baden-Baden: edition sigma, S. 39-60.

Lave, Jean/Wenger, Etienne (1991): Situated Learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge: University Press.

Mead, George. H. (1969): Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.

Mead, George H. (1975): Geist, Identität und Gesellschaft. 2. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.

Mikl-Horke, Gertraude (2017): Arbeit. In: Hartmut Hirsch-Kreinsen/Heiner Minssen (Hrsg.): Lexikon der Arbeits- und Industriesoziologie. Auflage. Baden-Baden: edition sigma, S. 24-29.

Stich, Volker/Gudergan, Gerhard/Senderek, Roman (2018): Arbeiten und Lernen in der digitalisierten Welt. In: Hartmut Hirsch-Kreinsen/Peter Ittermann/Niehaus, Jonathan (2018): Digitalisierung industrieller Arbeit. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Baden-Baden: edition sigma, S. 143-172.

Pfeiffer, Sabine/Suphan, Anne (2018): Industrie 4.0 und Erfahrung - das unterschätzte Innovations- und Gestaltungspotenzial der Beschäftigten im Maschinen- und Automobilbau.  In: Hartmut Hirsch-Kreinsen/Peter Ittermann/Niehaus, Jonathan (2018): Digitalisierung industrieller Arbeit. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Baden-Baden: edition sigma, S. 275-301.

Wenger, Etienne (2018): Communities of Practice. Learning, Meaning and Identity. Cambridge: University Press.