Die Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG

Die Industrialisierung, also die Einführung moderner Maschinen in Herstellungsprozessen und damit die Gründung von Fabriken, revolutionierte auch die Textilindustrie. Der Anstieg der nun produzierten Warenmengen, die breiter werdende Produktpalette und der Bevölkerungszuwachs in Europa führten zu einer wachsenden Nachfrage an Farben. Als der britische Chemiker und Industrielle William Henry Perkin im Jahre 1856 den ersten künstlichen Farbstoff auf Basis von Anilin erfand,[1] begann der Siegeszug der modernen Chemie. Schnell verbreitete sich die Kenntnis von den neuen Verfahren auch in Mitteleuropa, und es entstanden zahlreiche bis heute bekannte Unternehmen, wie etwa die „OHG Friedrich Bayer et comp.“ (Bayer) 1863 in Leverkusen, „Meister Lucius und Brüning“ (Hoechst) 1863 in Höchst am Main, die „Badische Anilin und Soda-Fabrik AG“ (BASF) 1865 in Ludwigshafen,[2] die „Cassella-Farbwerke Mainkur“ (Cassella) 1870 in Frankfurt-Fechenheim[3] sowie die „Actiengesellschaft für Anilin-Fabrikation“ (Agfa) 1873 in Berlin. Oft entwickelten sich die großen Unternehmen aus kleinen, fast noch handwerklichen Betrieben und örtlichen Apotheken.[4]

Waren diese modernen Betriebe zunächst nur auf die Produktion von Farben spezialisiert, erweiterten sie rasch ihr Spektrum. Kosmetika, Pflanzenschutzmittel, Dünger und Medikamente, chemische Zusatzstoffe und neue Werkstoffe bildeten die Sparten der angebotenen Produkte und erlaubten es den Unternehmen innerhalb kürzester Zeit, enorme Umsätze zu erzielen.[5] Schon bald richteten sie eigene Labor- und Forschungsräume zur Weiterentwicklung ihrer Produkte ein. Mit der Erforschung neuer Verbindungen spezialisierten sich die Betriebe weiter:  Während BASF beispielsweise recht schnell den Markt für moderne Dünger beherrschte, konzentrierte sich Agfa auf die neu entstehende Film- und Fotobranche.[6]

Bereits kurz nach der Bildung der Großunternehmen begann auch ihr Konkurrenzkampf untereinander. Denn obwohl der Markt und damit auch die Nachfrage an chemischen Produkten wuchs, waren die Absatzmöglichkeiten noch begrenzt. Carl Duisberg, Generaldirektor bei Bayer, versuchte die Perspektiven des eigenen Unternehmens durch eine kluge Bündnispolitik zu verbessern. Auf seine Initiative schlossen sich Bayer, BASF und Agfa 1904 zu einem „Dreibund“ zusammen. Hoechst und Cassella formierten den konkurrierenden „Zweibund“, dem sich 1907 die Chemische Fabrik Kalle & Co. in Biebrich anschloss.

Die während des Ersten Weltkrieges von den Alliierten erzwungene Ausgrenzung des Deutschen Reichs vom internationalen Markt sowie die britische Seeblockade Deutschlands beschleunigten die Anstrengungen, natürliche Stoffe künstlich zu ersetzen. Das führte zu Innovationen in der chemischen Industrie. Zudem lieferten die Unternehmen auch Sprengstoffe, Medikamente oder chemische Kampfstoffe wie das geächtete Chlorgas, so dass sie vom Ersten Weltkrieg finanziell profitierten.[7] Vor dem Hintergrund der schwindenden internationalen Absatzmöglichkeiten beschlossen die beiden großen Industriebünde „Zweibund“ und „Dreibund“ eine Kooperation. Sie formierten sich 1916 zu einer Interessengemeinschaft.[8]

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschlechterte sich die Lage der deutschen Industrie erheblich. Patentverluste, Demontagen von Werkstätten und der Rückgang von Verkäufen auf dem internationalen Markt bedeuteten enorme wirtschaftliche Einbußen.[9] Allerdings blieben die Strukturen, die Organisation und auch die Produktionsstandorte weitgehend erhalten. Mit dem Ziel eine neue, international konkurrenzfähige deutsche Wirtschaft zu etablieren, fusionierten die Chemiekonzerne 1924 unter dem Namen „Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG“ (kurz I.G. Farben) zu einer Aktiengesellschaft nach amerikanischem Vorbild. Dabei wurden die Besitzanteile der beteiligten Unternehmen auf die BASF übertragen und diese in eine große Aktiengesellschaft umgewandelt. Aufsichtsrat und Vorstand dieses neu entstandenen weltgrößten Chemiekonzerns setzten sich aus den bisherigen Direktoren und Führungspersönlichkeiten der einzelnen Unternehmen zusammen. Der ehemalige Direktor von Bayer und Initiator der Fusion, Carl Duisberg, wurde Vorsitzender des Verwaltungsrats der Generaldirektoren. Carl Bosch, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der BASF, übernahm den Vorsitz des Aufsichtsrates.

Die Schaffung eines Großbetriebes öffnete neue Vertriebs- und Produktionswege. Eine gezielte Aufteilung in vier Betriebsgemeinschaften, die Förderung des nach Produktsparten aufgeteilten Verkaufs und die gegenseitige Ergänzung von Spezialbetrieben machten die Gemeinschaft effizient und erfolgreich. Die Schwachpunkte offenbarten sich in der Organisationsstruktur: Auf der Basis eines gigantischen, dezentral aufgebauten Verwaltungssystems mussten Schreiben und Mitteilungen mehrfach ausgegeben und zwischen den Hauptstandorten hin- und hergeschickt werden. Die Frage nach der Schaffung eines zentralen Verwaltungs- und Planungsstandortes war daher naheliegend. Da die zentralen Verkaufsbüros schon in Frankfurt angesiedelt waren, beschloss man, dort auch den Hauptstandort zu errichten und eine Zentrale zu bauen. Diese sollte zugleich die Macht und das Potenzial des neuen Großunternehmens demonstrieren: Bereits 1925 vermerkte die Frankfurter Zeitung über den Zusammenschluss, dass er ein „großes historisches Ereignis in der Geschichte des Industriekapitalismus“ sei.[10]

Für den Bau wurde ein Gesamtbetrag von 16 Millionen Reichsmark veranschlagt. Mit dem Bau des Gebäudes auf dem Areal des ehemaligen „Irrenschlosses“ und in der Nähe der früheren Grüneburg  wurde nach einer Ausschreibung der Architekt Hans Poelzig beauftragt. Daher wird der 1931 fertiggestellte Komplex auch Poelzig-Bau genannt.

Für den Konzern war der neue Standort eine perfekte Ausgangsbasis. Verkehrsgeografisch und infrastrukturell ideal gelegen, ist die Stadt Frankfurt schon in früheren Jahren der chemischen Industrie gegenüber aufgeschlossen gewesen. Bürgermeister Ludwig Landmann (1865-1945) trieb nicht nur den Ausbau der bestehenden Anschlüsse – zu Wasser auf dem Main, an Land in Form von Bahnstrecken – voran, sondern erhoffte sich durch das Autobahnprojekt sowie einen neu zu errichtenden Flughafen die Etablierung eines europaweit anerkannten Wirtschaftsstandortes.[11]

Nach einer Anlaufphase, in der noch nicht alle Mitglieder des Aufsichtsrates und des Vorstandes in Frankfurt residierten, zogen immer mehr an den Main. Das I.G. Farben-Gebäude bot zusammen mit den angegliederten Laboren Platz für 2000 Mitarbeiter, die diesen „Palast des Geldes“,[12] das modernste Bürohochhaus Europas, täglich nutzten. Frankfurt am Main hatte sich als Standort des ersten Großkonzerns Deutschlands nun zum Zentrum der deutschen Chemieindustrie entwickelt.

Die Zeit des Nationalsozialismus politisierte auch die I.G. Farben. Die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise hatten auch für die deutsche Chemieindustrie enorme Einbußen bedeutet. Als sich eine politische Vormachtstellung der NSDAP abzeichnete, beschloss die Firmenleitung, diese Partei zu unterstützen.[13] Die I.G. Farben avancierte ab 1933 zu einem ihrer Hauptgeldgeber. Dies wirkte sich nach der Machtübernahme der NSDAP positiv für das Unternehmen aus: Im Rahmen des „Benzin-Vertrags“ von 1933 etwa verpflichtete sich der Konzern zum Ausbau seiner Benzin-Produktion und erhielt dafür besondere Renditen und Steuererleichterungen.[14]

Das ‚Gesicht‘ des Konzerns änderte sich im Verlauf der 1930er Jahre: Saßen in der Vorstandsebene Anfang des 20. Jahrhunderts viele einflussreiche jüdische Manager, wurde der Konzern relativ zügig ‚arisiert’. NS-Sympathisanten im Vorstand traten früh in die Partei ein; öffentliche und firmeninterne Repressalien bewirkten, dass allein im Aufsichtsrat ein Viertel der Mitglieder seine Ämter verlor. Ab 1937/38 unterstützten die I.G. Farben Hitlers Politik intensiver. Fest integriert in den 1936 aufgestellten „Vierjahresplan“, wurde die I.G. Farben ein wichtiger Teil der deutschen Kriegsmaschinerie.[15]

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Produktion auf Kriegsbedarf umgestellt, so dass neben Munition und notwendigen Rohstoffen auch "Ersatzstoffe", wie etwa petrochemisch hergestellter synthetischer Kautschuk, gefertigt wurden. Mit dem Einmarsch in Polen erhielt die I.G. Farben zudem das Recht auf sogenannte „Sicherstellungen“: Fabriken in eroberten Gebieten wurden unter Verwaltung der I.G. gestellt und in den Konzern integriert.

Im Jahre 1941 ging die I.G. Farben noch einen Schritt weiter und errichtete in Kooperation mit der SS ein eigenes Konzentrationslager: Buna/Monowitz (Auschwitz III). Zwangsarbeiter wurden zur Errichtung einer neuen Fabrik, der „I.G. Auschwitz“, eingesetzt. Mehr als 25.000 von ihnen starben schätzungsweise bis zur Aufgabe der Baustelle am 23. Januar 1945 – auf der Baustelle, im Lager und in den Gaskammern des zum Gesamtkomplex Auschwitz gehörenden Vernichtungslagers.[16] Für die Gaskammern lieferte die Firma Degesch, an der die I.G. Farben beteiligt war, das 1922 eigentlich zur Schädlingsbekämpfung entwickelte Gas Zyklon B (Blausäure), das nun für den Massenmord an den europäischen Juden eingesetzt wurde.[17] Auch medizinische Versuche an Häftlingen, u. a. mit Fleckfieber-Impfstoffen, waren an der Tagesordnung.[18] Der Tod Tausender Häftlinge wurde billigend in Kauf genommen und nur wenige, unter ihnen auch Norbert Wollheim, überlebten.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stellte sich die Frage, wie mit dem Großkonzern umzugehen sei. Wegen der Beteiligung an Kriegsverbrechen wurde zunächst das Vermögen beschlagnahmt und der Aufsichtsrat seiner Ämter enthoben.[19] Das Verwaltungsgebäude in Frankfurt wurde zum Hauptsitz der Militärverwaltung der amerikanischen Besatzungszone. In der russischen Besatzungszone begann man mit der Demontage und dem Abtransport von Anlagen. Unrechtmäßig enteignete Besitzungen in den vormals eroberten Gebieten, etwa Polen, wurden zurückgegeben. Ab Herbst 1948 begann das „Bipartie IG Farben Control Office“ damit, den noch bestehenden Großkonzern aufzulösen und in seine ehemaligen Konzernteile aufzuspalten. Bis 1955 dauerte die Diskussion über das konkrete Vorgehen, was 1951 zunächst in die Wiedererrichtung der einstigen Konzerne Hoechst, Bayer und BASF mündete. Die der Kriegsverbrechen angeklagten Vorstände wurden im Rahmen der Nürnberger Prozesse allerdings freigesprochen.

Das I.G.-Liquidationsschlussgesetz von 1955 beendete schließlich alle von der amerikanischen Verwaltung auferlegten Beschränkungen. 90 Prozent des einstigen Vermögens der I.G. Farben gingen auf die neu errichteten, kleineren Konzerne über. Schon bald saßen ehemalige Vorstandsmitglieder der I.G. Farben wieder in den Vorständen bei Bayer, BASF und Hoechst. Die Bestrebungen ehemaliger Zwangsarbeiter wie Norbert Wollheim sorgten in den folgenden Jahren dafür, dass die Bundesregierung mit Entschädigungsgesetzen auch diese Konzerne zumindest ansatzweise zur Rechenschaft ziehen sollte.

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Literatur und Links:

  • Drummer, Heike/Zwilling, Jutta: Von der Grüneburg zum Campus Westend. Die Geschichte des IG Farben-Hauses. Frankfurt am Main 2007.
  • Fritz Bauer Institut: Homepage des Wollheim Memorial: www.wollheim-memorial.de.
  • Garfield, Simon: Lila: Wie eine Farbe die Welt veränderte. Berlin 2001.
  • Hayes, Peter: Die I.G. Farbenindustrie AG als nationalsozialistischer Staatskonzern – 1933-1945. In: Meißner, Werner/Rebentisch, Dieter/Wang, Wilfried (Hrsg.): Der Poelzig-Bau. Vom I.G. Farben-Haus zur Goethe-Universität. Frankfurt am Main 1999, 97-103.
  • Rebentisch, Dieter: Frankfurt am Main und die Gründung der I.G. Farben. In: Meißner, Werner/Rebentisch, Dieter/Wang, Wilfried (Hrsg.): Der Poelzig-Bau. Vom I.G. Farben-Haus zur Goethe-Universität. Frankfurt am Main 1999, 81-96.
  • Rhein, Johannes: Immer wieder das Gleiche: Noch einmal zur Geschichte des schönsten Campus Deutschlands... Zeitung des Allgemeinen Studierendenausschusses der Goethe-Universität. Frankfurt, 01/2013, 5-10.
  • Roth, Karl Heinz: Die I.G. Farbenindustrie AG im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt am Main 2009.
  • Stadt Frankfurt: Chronik von Fechenheim.
  • Schmal, Peter Cachola: Der Kunde ist König – zum Einfluß des Bauherrn I.G. Farbenindustrie AG auf die Entstehung der »Grüneburg«. In: Meißner, Werner/Rebentisch, Dieter/Wang, Wilfried (Hrsg.): Der Poelzig-Bau. Vom I.G. Farben-Haus zur Goethe-Universität. Frankfurt am Main 1999, 47-59.
  • Die komplette Studie von Karl Heinz Roth zur Geschichte der I.G. Farben kann online über die Homepage des Wollheim Memorials abgerufen werden.

[1] Garfield 2001.
[2] Drummer/Zwilling 2007, 24.
[3] Stadt Frankfurt, Chronik von Fechenheim.
[4] Vgl. hierzu Rebentisch 1999, 82ff.
[5] Vgl. Rebentisch 1999, 83ff.
[6] Drummer/Zwilling 2007, 24.
[7] Drummer/Zwilling 2007, 26.
[8] Drummer/Zwilling 2007, 26.
[9] Rebentisch 1999, 88.
[10] Frankfurter Zeitung, zitiert bei Rebentisch 1999, 81.
[11] Rebentisch 1999, 91f.
[12] Theodor Heuss 1929, zitiert bei Rhein 2013, 5.
[13] Drummer/Zwilling 2007, 60ff.
[14] Drummer/Zwillling 2007, 60.
[15] Drummer/Zwilling 2007, 64.
[16] Fritz Bauer Institut/Wollheim Memorial.
[17] Roth 2009, 49.
[18] Ebd., 52ff.
[19] Drummer/Zwilling 2007, 84.