Zur Leitbild-Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt im Jubiläumsjahr 2014

Cornelius Prittwitz

Warum ein Leitbild, warum jetzt und hier?

Ganz grundsätzlich gefragt: Braucht eine Universität ein Leitbild, braucht unsere Universität eines? Wenn ja, wofür, bzw. für wen? Wer soll das Leitbild formulieren, wie sollte ein Leitbild entstehen? Was soll im Leitbild stehen, wie ausführlich soll und darf es sein? Und ganz konkret gefragt: Was ist von dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Leitbildes zu halten, zum Zeitpunkt seiner Vorstellung, zum Prozess seiner Entstehung?

Forum Leitbild am 4. Juni - 50.000 verglichen mit knapp 100: kein Scheitern!

Alle diese Fragen konnten am vergangenen Mittwoch (4. Juni) im Festsaal im Casino diskutiert wer­den. Wären alle Eingeladenen gekommen, hätte auch der Universitätsplatz zwischen Casino und Hörsaalzentrum nicht ausgereicht. Denn eingeladen hatte der Präsident die Mitglieder der Univer­sität, bekannt­lich etwa 50.000 Menschen. Gekommen waren – immerhin – knapp 100 Universitäts­mitglieder, wenn der subjektive Eindruck nach täuscht überwiegend aus den Gruppen der wissen­schaft­lichen und technisch administrativen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so dass trotz geschick­ter Stuhlregie ein Vollversammlungsgefühl nicht aufkommen wollte. Von Scheitern dieses Forums­angebots kann - auch dank eines gut besetzten Podiums und einer gelungenen Moderation - gleich­wohl keine Rede sein. Auch wenn einer der relativ wenig er­schienenen Studie­ren­den freimütig bekannte, er halte das ganze „Projekt Leitbild“ für „Quatsch“, zeigte die rege Dis­kus­sion, an der sich viele der Anwesenden (aus den verschiedenen „Statusgruppen“) beteiligten, dass durchaus Interesse am Thema („Was leitet unsere Universität und was sollte sie leiten?“) bestand. Und zum Schluss brachte eine Teilnehmerin es auf den Punkt: Wenn man hätte ahnen können, dass es nicht um das „Abnicken“ eines vorgelegten Papiers ging, sondern, dass die Möglichkeit bestand, sich – nicht nur an der Diskussion, sondern an der Konstruktion des Leitbildes – zu beteiligen, wäre die Beteiligung sicher höher ausgefallen. Dass so viele Universitätsmitglieder an diese Betei­ligungs­möglichkeit nicht glauben mochten, ist natürlich kein Zufall. Die Universität hat sich geändert, und auch die Goethe-Universität und ihre normativen Grundlagen haben sich geändert; ihre Gremien und Organe und deren Zuständigkeit sehen zwar auf den ersten Blick aus wie ehedem, aber in wichtigen Momenten kann man das Aus­maß der Veränderungen erahnen. Seit 2008 knüpft die Goethe-Uni­versität nicht nur wieder an die gute Tradition der Bürger- und Stiftungsuniversität an, sondern sie mutiert zu einer Universität anderer und neuer Art.

Bekenntnis zum Leitbild - jetzt und an der Goethe-Universität

In dieser Situation, wenn selbstverständliche Leitbilder abhandengekommen oder unscharf ge­wor­den sind, wenn externe Zielvorgaben und ministerielle Zielvereinbarungen sie vermeintlich ersetzen, steht es jeder Universität und gewiss auch der Goethe-Universität gut an, sich ihrer selbst und damit ihres Leitbildes zu vergewissern. Ist der dafür gewählte Zeitpunkt nicht unglücklich, wurde auf dem Forum gemutmaßt, hätte es sich nicht gehört, abzuwarten, wer mit welchem Team ab 2015 die Universität leitet und den Prozess der Leitbildfindung ihnen aufzutragen, wurde gefragt. Meine Antwort darauf ist ein klares „Nein!“. Nicht zu früh, sondern zu spät (und deshalb in der Gefahr, als Hochglanzelement der Jubiläums­feier­lich­keiten missverstanden zu werden) kommt der Prozess, und die Risiken des Zeitpunkts liegen allen­falls darin, dass nicht die Universität, sondern ihr Präsident zum Jubiläum ein Leitbild präsentieren will.

 Wer ist „wir“? Pluralis majestatis vs. „we, the people …“

Im Zusammenhang damit steht die Frage, wie das ostentativ wiederholte „wir“ vor den sieben auf­ge­zählten Grundsätzen, zu verstehen ist. Was einige im Publikum an den zeitlosen, aber gern lateinisch benannten pluralis majestatis erinnert, sollte so gerade nicht verstehen. Vielmehr knüpft ein selbst­verpflichtendes Leitbild von der Universität und (zumindest auch) für die Universität an das „wir“ des ebenso berühmten wie wirkungsvollen Textes, an, in dem es heißt „we the people …“ (Anfang der amerikanischen Verfassung von 1787). Eine Universität, die in einem Prozess mit umfänglichen Betei­li­gungsmöglichkeiten ein Leitbild formuliert, setzt den erwähnten Zielvorgaben ein selbst­bewusstes „l΄université, c’est nous!“ entgegen. Auch die Universität, das versteht sich von selbst bedarf der Leitung. Hoch­schul­gesetz und Grundordnung regeln Kompetenzen und das Organisatorische. Der Souverän aber, wenn man das Bild verwenden will, sind die Mitglieder der Universität. Das bedeutet Partizipation, es fordert sie aber auch ein. Wer dem nächsten Präsidium die Aufgabe der Leit­bild­er­stellung übertragen will, hat nicht verstanden, dass es weder das scheidende noch das kommende Präsidium, sondern die Universität ist, genauer: dass es ihre Mitglieder und zwar alle Mitglieder der Universität sind, die diesen Prozess gestalten und lebendig erhalten müssen.

 Nochmal: Wer ist „wir“?

Normativ gesehen versteht es sich, dass das „wir“ alle Mitglieder der Universität, in der Sprache der Wahlordnung: alle Statusgruppen, umfasst. Das soll hervorgehoben werden, weil in der Diskussion von Seiten der - stark vertretenen - (sogenannten) technisch-administrativen Mitglieder hervor­ge­hoben wurde, sie würden sich zu wenig in diesem Leitbild wiederfinden, sie, die sich tatsächlich als „Serviceeinheiten“ verstünden, würden sich zu wenig „gewürdigt“ fühlen. Diese Klage trifft nur be­grenzt zu (das Selbstverständnis als „lernende Organisation“ und die Selbstverpflichtung zu trans­parenten Führungsstrukturen und Partizipation und Chancengleichheit (be-) treffen Universitäts­mit­glieder in „der Verwaltung“  ebenso wie die forschenden, lehrenden und lernenden ), und es beruht zum anderen auf einem Missverständnis. Das Missverständnis betrifft die „Gleich­rangigkeit“ von Forschung, Lehre und (im weitesten Sinn) Verwaltung. Ohne eine gut funktio­nieren­de, ideenreiche, ebenso flexible wie grundsatz- und rechtstreue Verwaltung bleibt exzellente Lehre und Forschung auf internationalem Niveau ein frommer Wunsch. Das heißt aber zu Ende gedacht, dass die exzellente und nach Exzellenz strebende Verwaltung kein Selbstzweck und in diesem Sinn keine Aufgabe der Universität ist. Anders als Forschung und Lehre, die zu den disziplinären und interdisziplinären Antworten auf Grundlagenfragen und gesellschaftliche Probleme unmittelbar beitragen, besteht ihre Aufgabe gerade darin dass, diese Beiträge zu ermöglichen. Nichts anderes wird auch in dem explizit geäußerten Selbstverständnis als „echte Serviceeinheit“ deutlich. Nicht anders als in anderen Gruppen lautet das – dank Leitbild auch (argumentativ) einklagbare - Motto auch hier: es muss gelebt werden.

Leitbild: Hochglanz oder Referenzrahmen?

Die fortgesetzte Mahnung, ein Leitbild sei nur so gut, wie es eingefordert und gelebt wird, beant­wor­tet eine andere - auf dem Forum ebenfalls und in verschiedenen Spielarten - ge­äußerte Kritik, es handle sich bei dem vorgelegten Text nur um sprachlich-intellektuellen Hochglanz, hinter dem der universitäre (Leitungs- und Arbeits-) Alltag hinterherhinke. An dem kritischen Befund dürfte kein Weg vorbeiführen; aber: Ein Leitbild soll leiten, nicht (Wirklichkeit) darstellen, es soll Richtung anzeigen, Selbstverpflichtung und damit Referenzrahmen für Kritik sein, wenn leitende Personen oder Gremien sich in ihrem Verhalten von den (selbst-) verpflichtenden Grundsätzen entfernen. Die Thesen, die Anton Wakolbinger dazu in dieses Forum eingebracht hat, illustrieren beispielhaft, wie ein solches Leitbild nützlich sein kann, wenn es denn genutzt wird. Merke: Das Leitbild muss gelebt werden!

Normal- und Leitbildgrammatik

Sollte man das, so wurde nachgefragt, nicht auch sprachlich klarstellen, sollte es nicht heißen „wir streben internationales Niveau an“ statt damit anzugeben, wir hätten es schon? Das ist diskussions­würdiger Punkt, zumal die Grundsätze (gewollt oder ungewollt) differenzieren zwischen dem sprachlich vor­ausgesetzten „internationalem Niveau“, der etwas vagen Formulierung, wir „verstehen uns als lernende Organisation“, der etwas unverbindlichen Formulierung, für die Chancengleichheit „treten wir ein“ und der noch dezenteren Formulierung, „wir achten auf transparente Führungs­strukturen und Partizipation aller Beteiligten“.

In der Tradition (selbst-) verpflichtender Leitbilder (nichts anders sind zum Beispiel Verfassungen) sind solche Differenzierungen entweder unerwünscht … oder sehr aussagekräftig. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, formuliert Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grund­gesetzes, und beschreibt damit, wie jedem bewusst ist, nicht die Abwesenheit von menschen­würdefeindlichen Phänomenen, sondern die Nichtverhandelbarkeit des Grundsatzes. Wenn die Grundsätze, zu denen wir  uns bekennen, nicht verhandelbar sein sollen, dann müssen sie, auch wenn und gerade wenn sie (noch) nicht verwirklicht sind, unverhandelbar formuliert werden. Wirkung entfalten die Grundsätze – ebenso wie Art. 1 Grundgesetz – nur, wenn das Leitbild gelebt wird, die Einhaltung der Grundsätze eingefordert werden.

Der Geschichte verpflichtet? Der Geschichte verpflichtet!

Zu Recht erwähnt die Präambel des Leitbildvorschlags die verpflichtende Geschichte. Die Kon­kreti­sierung dieser Verpflichtung durch das Betonen der Ideale der europäischen Aufklärung, der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist nicht zu kritisieren. Die Tatsache, dass die gerade 100 Jahre alt gewordenen Goethe-Universität von 1933-1945 gesellschaftskonform diese Ideale ebenso verraten hat, wie sie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit Füssen getreten hat, sollte uns ermutigen, an die Verletzlichkeit der leitenden Ideale und Werte zu erinnern: „Ihrer Geschichte verpflichtet“ sollte auch und gerade im Jubiläumsjahr durch die Formulierung „und der dunkeln Kapitel dieser Geschichte schmerzhaft bewusst“ ergänzt werden.