Neutestamentliche Wissenschaft als theologische und kulturwissenschaftliche Disziplin

Das Fach Neues Testament wird als theologische und kulturwissenschaftliche Disziplin aufgefasst, die zur Erschließung religiöser Kommunikation und damit zur kommunikativen Erschließung der Welt beitragen soll. Dazu werden sowohl die historische Verortung der biblischen Schriften in ihrer Entstehungskultur, als auch die Bedingungen ihrer Lektüre unter den Gegebenheiten der Gegenwartskultur in den Blick genommen.

Diese beiden Pole – kulturelle Produktionsbedingungen der biblischen Schriften auf der einen und die Gegenwartskultur, in der biblische Texte heute gelesen bzw. verarbeitet werden, auf der anderen Seite – markieren zugleich die Brennpunkte neutestamentlicher Hermeneutik. Verbunden sind die beiden Pole durch die Rezeptionsgeschichte der biblischen Schriften. Daher erhalten auch forschungsgeschichtliche und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte einen angemessenen Raum. Um diesen Fragestellungen wissenschaftlich gerecht zu werden, ist die interdisziplinäre Verknüpfung des Faches Neues Testament insbesondere mit den Fächern Religionswissenschaft, Philosophie, Geschichte, Altphilologie und Literaturwissenschaften erforderlich.

Mit Bezug auf die Entstehungskultur(en) der neutestamentlichen Texte ist es notwendig, neben der politischen Geschichte, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gerade auch die vielfältige und komplexe antike Religionsgeschichte, insbesondere die jüdische Religionsgeschichte im Rahmen des Hellenismus und des römischen Reiches, zu berücksichtigen. Aber auch die hellenistischen und römischen Kultgemeinschaften sowie die Formen und Ansprüche hellenistischer Herrscher und römischer Staatsreligion müssen unvoreingenommen berücksichtigt werden, um das plurale und konfliktreiche kulturelle Setting zu verstehen, in dem die neutestamentlichen Schriften entstanden sind.

Die neutestamentlichen Lehrveranstaltungen vermitteln daher Grundwissen über das antike Judentum, das Zeitalter des Hellenismus und über die Geschichte des Römischen Reiches. Diese Bereiche sind gemeinsam und in wechselseitiger Beeinflussung Kultur prägend für den historischen Raum der Produktion und Rezeption der neutestamentlichen Schriften gewesen. Auch das Judentum des 1. Jahrhunderts n. Chr. weist erhebliche kulturelle Einflüsse des Hellenismus auf, die sich nicht zuletzt in der LXX und der Abfassung weiter Teile der so genannten zwischentestamentlichen Literatur und dann auch in der Abfassung aller neutestamentlichen Schriften in griechischer Sprache widerspiegeln. Unter Wahrnehmung der Komplexität des ptolemäischen und des seleukidischen Reiches sind aber auch in Zusammenarbeit mit der alttestamentlichen Wissenschaft die altorientalischen religiösen, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen und politischen Traditionen zu berücksichtigen. Von immer größer werdender Bedeutung für beide biblische Disziplinen ist die Erforschung der phönizischen Kultur, die schon im vorhellenistischen Zeitalter als Kulturvermittlerin zwischen Griechenland und dem Vorderen Orient gewirkt hat.

Der Schwerpunkt der historischen Studien liegt auf der Fragestellung, wie die religiösen, politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Strukturen als bestimmende kulturelle Faktoren zur Konstruktion von Plausibilitätsstrukturen beigetragen haben, die die neutestamentlichen Schriften setzen und voraussetzen.

Das Fach Neues Testament darf aber nicht nur diese historische Perspektive einnehmen, sondern muss ebenso die Frage nach den Rezeptionsbedingungen biblischer Schriften unter den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Gegenwart bearbeiten, da die Frage nach der Relevanz biblischer Schriften für die gegenwärtigen Lebenszusammenhänge im schulischen Religionsunterricht und in der kirchlichen Praxis vornehmliche Aufmerksamkeit verdient. Wie werden gegenwärtige Plausibilitätsstrukturen konstruiert, und was geschieht, wenn diese auf diejenigen biblischer Schriften treffen? Hierzu bedarf es der interdisziplinären Ausarbeitung dieser Fragestellung im Gespräch mit der gegenwartsorientierten Religionswissenschaft, der Religionspädagogik, Sozialwissenschaften, der philosophischen Erkenntnistheorie und Hermeneutik sowie der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik, Methodologie und Rezeptionsforschung. Semiotik als eine fächerübergreifende Grundlagendisziplin vermag diese Fragestellungen mittels einer zeichentheoretisch begründeten Kommunikations-, Kultur- und Interpretationstheorie zu verbinden.

Die Lektürebedingungen der Gegenwart sind mitbedingt durch die Rezeptionsgeschichte biblischer Schriften. Die Auslegung biblischer Schriften in der Gegenwart kann nur sachgemäß erfolgen, wenn sie ihre jeweilige traditionsbedingte Standortgebundenheit bedenkt. Damit sind nicht nur die konfessionellen Voraussetzungen gemeint, sondern gleichermaßen die Rezeption "biblischer" Schriften in der Alten Kirche, die erst zur Entstehung des Kanons führt, bis hin zum Erbe der Aufklärung, das auch noch die postmoderne Gegenwartskultur mitbestimmt. Daher ist es sachgemäß, dass es zum Aufgabenbereich der neutestamentlichen Professur gehört, auch Veranstaltungen zur Alten Kirche anzubieten.

Unter einer rezeptionsorientierten Perspektive auf das Fach Neues Testament erweitern sich die Anforderungen stofflich und medial. Neutestamentliche Wissenschaft hat es dann nicht mehr ausschließlich mit den neutestamentlichen Schriften zu tun, sondern auch mit der kritischen Begleitung ihrer Rezeption bis in die Gegenwart hinein in Literatur, Kinderbibeln, Malerei, bildende Kunst, Musik, Videoclips, Filmen und Neuen Medien. Um diesen komplexen Aufgaben nachzugehen, wird die Zusammenarbeit mit Religionspädagogik, Praktischer Theologie, Systematischer Theologie, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften, Musikwissenschaft, Filmphilologie, Sozialwissenschaften etc. vorangetrieben. Leitziel einer so verstandenen neutestamentlichen Wissenschaft ist es, die theologisch sachgemäße Lektüre biblischer Schriften als eine unverzichtbare Stimme in der pluralen Gesellschaft zu fördern und als religiöses und kulturelles Identifikationsangebot in der Gegenwart zu erhalten und damit zur kommunikativen Erschließung der Welt beizutragen. Gerade im Dialog mit der konfessionsfreien Religionswissenschaft und im Trialog mit Judentum und Islam kann Neutestamentliche Wissenschaft als konfessionell verortete theologische Disziplin zur Ausarbeitung eines gesellschaftlichen Dialogverständnisses beitragen, das nicht auf Harmonie und Identität, sondern auf Differenz und friedlicher Streitkultur der gemeinsam nach Wahrheit Suchenden setzt. Insbesondere protestantische Theologie, die den Ort der Wahrheitsfrage von der Institution der Kirche in das Subjekt der Glaubenden verlegt, hat das Potential, die philosophischen, religiösen und theologischen Grundlagenprobleme pluraler Gesellschaften förderlich zu bedenken.