Dissertationen

Julia Becher

Psychiatrische Kartierungen des Selbst. Rekonstruktionen adoleszenter Bildungsprozesse zwischen Familie und Jugendpsychiatrie.

Becher, Julia (2023): Psychiatrische Kartierungen des Selbst. Rekonstruktionen adoleszenter Bildungsprozesse zwischen Familie und Jugendpsychiatrie. Wiesbaden: Springer VS.

Die qualitative Längsschnittstudie widmet sich adoleszenten Bildungs- und Individuationsprozessen und der (Re-)Strukturierung adoleszenter Selbstentwürfe im Zusammenhang mit einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung und in ihrer Vermittlung durch das primärsozialisatorische Milieu der Familie. Ziel der rekonstruktionsmethodologisch fundierten Untersuchung ist ein adoleszenz- und sozialisationstheoretisch relevanter Beitrag zu psychiatrisch vermittelten adoleszenten Subjektbildungsprozessen im Kontext psycho-sozialer Krisen einerseits sowie zu (familien-)biografischen Aneignungs- und Übersetzungsprozessen jugendpsychiatrischer Interventionen und Deutungen andererseits. Theoretisch ist die Arbeit in der strukturtheoretischen Sozialisations- und Familientheorie und der generationstheoretisch und sozialpsychologisch fundierten Adoleszenztheorie von Vera King verortet und berücksichtigt darüber hinaus anerkennungstheoretische Perspektiven. Vor dem Hintergrund des Spannungsgefüges zwischen Familie und Jugendpsychiatrie, die jeweils als eigenlogische Strukturorte der Subjektbildung verstanden werden, die jeweils unterschiedliche Anerkennungsordnungen und -praktiken, Bewährungssphären und mögliche Subjektpositionen konstituieren, wird nach den dadurch konstituierten Spielräumen für adoleszente Entwicklung gefragt. So wird erstens unter Berücksichtigung eines mit der professionellen Krisenbearbeitung verbundenen Prozesses der Übersetzung in die Logik von Krankheit und Gesundheit und des (temporären) Übertrags primärer Krisenbewältigung an die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach den in Zusammenhang mit dem Klinikaufenthalt stehenden familialen (Re-)Strukturierungsprozessen, intergenerationalen Spannungen und Übersetzungsleistungen zwischen primärsozialisatiorischem Milieu und der jugendpsychiatrischen Institution gefragt. Zweitens steht die Frage nach den Restrukturierungen adoleszenter Selbstentwürfe im Kontext einer jugendpsychiatrischen Behandlung, den darüber angeeigneten Sinngehalten und die auf diese bezogene familiale Resonanzstruktur im Zentrum. Hierbei wird in Rechnung gestellt, dass sich die jugendpsychiatrische Intervention in einer hochdynamischen Lebensphase vollzieht, in der zunehmend identitätsrelevante Positionierungen des Selbst bedeutsam werden und zugleich die professionelle Praxis unmittelbar auf das Selbst und dessen Transformation zielt. Hier wird nach der Aneignung der im Kontext der Jugendpsychiatrie erfahrenen Adressierungen, Positionierungen und Zuschreibungen im biographischen Verlauf und den damit verbundenen biographischen Konflikten gefragt.

Im Mittelpunk der Studie stehen zwei Fallstudien. Pro Fall wurden vier Interviews – leitfadengestützte biografische Interviews mit Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren, die vollstationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt wurden, und Familiengespräche – im Zeitraum von bis zu zwei Jahren ausgewertet, die im Rahmen des von Mirja Silkenbeumer geleiteten Forschungsprojekts „Transformations(an)forderungen im Übergang zwischen Familie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und (Klinik-)Schule in der Adoleszenz“ erhoben wurden. Um die den Gegenstand bestimmende Krisen- und Bildungsdynamik in ihrer Dialektik von Emergenz und Determination zu rekonstruieren, wurde das Verfahren der Objektiven Hermeneutik gewählt. Über die Kombination von Familien- und Einzelgesprächen konnten die sozialen Konstitutionsprozesse von Biografie und die Kopräsenz familial gestifteter Narrative erschlossen werden. Das Längsschnittdesign ermöglichte die Rekonstruktion der prozessualen und probeweisen Reorganisationen adoleszenter Selbstentwürfe.

Zu den Erkenntnissen der Studie: Über die Rekonstruktion der Fallstrukturen wird deutlich, dass die an die Kinder- und Jugendpsychiatrie herangetragene Krise mit der familialen Sozialität unmittelbar verstrickt ist und die mit dem Involvieren des Gesundheitssystems verbundenen Logiken mit familialen Konfliktdynamiken interferieren. Bezogen auf mit Krankheit verbundene Sinnbildungsprozesse zeigt sich in den Fallanalysen, dass die Identifikation der zugrundeliegenden Krise zwischen den konkurrierenden Deutungen als Krankheit und als familiales Konfliktgeschehen changiert und darüber auch Bedürfnisse und Sprecherpositionen delegitimiert werden. Die Aneignung von Krankheit – als medizinische Kategorie – steht dabei in Wechselwirkung zur Eigenlogik der Familie und wird im biografischen Verlauf höchst selektiv in einen übergeordneten biographischen Sinnhorizont eingefügt. Die prozessualen Veränderungen der Krankheitskonzeption stehen dabei in Zusammenhang mit konkreten Krisenerfahrungen und deren Bewältigung. Außerdem zeigt sich dabei nicht nur, dass die familialen Konfliktdynamiken mit adoleszenten Bildungsprozessen verknüpft sind, sondern über den jugendpsychiatrischen Aufenthalt auch adoleszente Ablösungskonflikte moderiert und (re-)strukturiert und adoleszente wie innerfamiliale Bildungsprozesse angestoßen werden. Hier wird in beiden Fällen sichtbar, dass die Erfahrung sich spezifisch konstellierender und komplementär zur familialen Anerkennungskultur und ihren spezifischen Vereinseitigungen sich ausgestaltender Anerkennungsbeziehungen im Kontext des Klinikaufenthaltes relevant werden. Diese Anerkennungserfahrungen erweisen sich als wesentlich für die ausgebildete Resonanz auf die institutionellen Sinngehalte, durch die die Integration traumatischer Erfahrungen ermöglicht, familiale Beziehungen und adoleszente Selbstentwürfe restrukturiert und neue Anerkennungsordnungen verinnerlicht werden. Insbesondere wird dabei die Verinnerlichung eines Ideals einer ‚gelingenden‘ familialen Beziehung seitens der Jugendlichen und die damit verknüpfte Ausbildung von kollektiv anerkannten Gewissheiten über Recht und Unrecht bedeutsam, über die primärsozialisatorische Beziehungen zu restrukturieren versucht werden. Außerdem zeigt sich eine Verinnerlichung von Prinzipien einer ‚gelungenen‘ Lebensführung, die um das Ideal der Selbstsorge zentriert sind, das an die Relevanzordnung des Gesundheitssystem und den diesem inhärenten Responsibilisierungen anknüpft. Innerfamilial werden hierüber Grenzen individueller Zumutbarkeit kommunizierbar, die zu familialen Spannungen führen. Sichtbar wird, dass die außerfamilialen Anerkennungskulturen einen Identifikationshorizont zur Verfügung stellen, der Spielräume für adoleszente Individuation eröffnet und das Verlassen familialer und als leidvoll erfahrener Bewährungsräume ermöglicht. Die Bedeutung der Verinnerlichung außerfamilialer Anerkennungsordnungen für die Freisetzung von Autonomie- und Individuationspotentialen ist auch anschlussfähig für eine sozialwissenschaftliche Adoleszenz- und Familientheorie. Darüber hinaus bieten die Ergebnisse Anschlüsse für die erziehungswissenschaftliche Übergangsforschung. Abschließend wird anknüpfend an modernitätstheoretische Perspektiven zu an das Subjekt in der beschleunigten Moderne gerichtete Optimierungslogiken eine Verbindung zwischen dem sozialwissenschaftlichen Diskurs um Arbeitsleid und schulbezogenes Leiden gezogen. Hier werden die mit der Institutionalisierung der Kategorie des ‚Schulabsentismus’ verbundenen Verschiebungen des Verhältnisses von Pädagogik, Medizin und Therapie beleuchtet, durch die auch pädagogische Ordnungsprobleme an das Gesundheitssystem delegiert werden.

Gutachterinnen: Prof. Dr. Mirja Silkenbeumer, Prof. Dr. Vera King, Prof. Dr. Sabine Andresen (alle Goethe-Universität Frankfurt am Main)


Janina Schulmeister

Jugend und Psychiatrie – Adoleszente Sozialisationsverläufe im Spannungsfeld der jugendpsychiatrischen Triade. 

Schulmeister, Janina (2023): Jugend und Psychiatrie. Adoleszente Sozialisationsverläufe im Spannungsfeld der jugendpsychiatrischen Triade. Wiesbaden: Springer VS.

Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Jugend und psychischer Krankheit stellt ein markantes Desiderat dar. Die Erfahrung potenziell gesteigerter psychosozialer Krisen in der Adoleszenz und deren soziale bzw. gesellschaftliche Einbettung sind bislang ebenso wenig untersucht worden, wie auch unterschiedliche Formen ihrer institutionellen Bearbeitung. Die Institution der Kinder- und Jugendpsychiatrie gerät in diesem Kontext als gesellschaftliche Institution des Gesundheitssystems und spezifische Form institutionell gerahmter Krisenbearbeitung in den Blick. Als different strukturierter Sozialisationsraum kann diese auf unterschiedliche Art und Weise durch Jugendliche und ihre Familien in Krisenbearbeitungsprozesse einbezogen werden und Bedeutung erlangen.

Die qualitativ-rekonstruktive Untersuchung ist verortet im thematischen Schnittfeld von Jugend, Krise/Krankheit und der Institution der Kinder- und Jugendpsychiatrie und untersucht aus einer primär sozialisations- und adoleszenztheoretischen Perspektive adoleszente Sozialisations- und (Subjekt-)Bildungsprozesse im Kontext einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht zusammengefasst die Frage danach, wie Jugendliche, die aufgrund psychosozialer Krisen stationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt wurden, dies erleben, im Horizont ihrer bisherigen Sozialisationsgeschichte deuten und inwiefern diese (Institutionen-)Erfahrungen vor dem Hintergrund adoleszenter Entwicklungsdynamiken sozialisatorisch bedeutsam werden. Um diese Frage angemessen bearbeiten zu können, zielt die Untersuchung auf einen Erkenntnisgewinn auf zwei Ebenen: In einem ersten Schritt gilt es sich der strukturellen Verfasstheit kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken zu nähern, bevor im Anschluss daran adoleszente Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse bzw. die sozialisatorische Geltungskraft einer solchen Erfahrung in der Lebens- und Entwicklungsphase der Adoleszenz untersucht werden kann. Das empirische Zentrum der Arbeit stellen zwei interviewbasierte, objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktionen psychiatrieerfahrener Jugendlicher dar, die einen Zeitraum von bis zu vier Jahren umfassen.

Zu den Ergebnissen der Untersuchung: Mit dem konzipierten Modell der jugendpsychiatrischen Triade ist ein heuristischer Baustein zum Verständnis der Erfahrungen und Sozialisationsverläufe Jugendlicher in der Institution der Kinder- und Jugendpsychiatrie geschaffen. Es stellt den Fall der strukturellen Erweiterung des Familiensystems durch die Klinik als institutionellem Dritten unter der Bedingung asymmetrisch strukturierter Generationsbeziehungen und unterschiedlicher Beziehungsmodalitäten und Interaktionsansprüche dar. Im Anschluss an die beiden ausführlichen Fallrekonstruktionen werden diese vor dem Hintergrund des heuristischen Gehalts des Modells der jugendpsychiatrischen Triade theoretisch weiter systematisiert und zu zwei Verlaufsformen adoleszenter Sozialisationsverläufe und unterschiedlichen Bearbeitungsmodi von mit dem Klinikaufenthalt verbundenen (biografischen) Spannungen verdichtet. Über die analytische Unterscheidung dreier Ebenen (bisherige Sozialisationsgeschichte, Strukturkonstellationen der jugendpsychiatrischen Triade, Konstitution des adoleszenten Erfahrungsraums) schließen Überlegungen zu adoleszenten Bildungsprozesse im Kontext einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung die Arbeit ab.

Gutachter/innen: Prof.in Dr. Mirja Silkenbeumer (Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Prof. Dr. Sven Thiersch (Universität Osnabrück)