Silvia Vignati

Auf der Spur der ersten und zweiten Ethik. Eine vergleichende Analyse der pseudonymen und nicht-pseudonymen Schriften Søren Kierkegaards bis 1847

1. Die Unterscheidung zwischen „erster“ und „zweiter Ethik“ wird von Vigilius Haufniensis, dem pseudonymen Verfasser von Søren Kierkegaards Begriff Angst (1844) eingeführt. Mit dieser Schrift bzw. mit der genannten Unterscheidung setzt Kierkegaard ohne Zweifel eine Zäsur mit Bezug auf seine vorige Schriftstellerei: Die „erste Ethik“ – unter der im weitesten Sinne eine natürliche und ideal-immanente Ethik zu verstehen ist –, wird hier erstmals als zum Scheitern verurteilte ausgegeben; ihr gegenüber wird eine „zweite Ethik“, d.h. eine neue und genuin christliche Ethikform postuliert, die im Unterschied zur ersten im Begriff der Sünde ihren Ausgangspunkt hat, und zwar indem sie zugleich deren Wirklichkeit und Transzendenz voraussetzt.  

Zwar liegen zur Ethik Kierkegaards bereits zahlreiche Monografien und Aufsätze vor, doch nur sehr wenige, die sein Werk aus der spezifischen Perspektive dieser Unterscheidung betrachten. Mein Dissertationsprojekt setzt sich vor diesem Hintergrund zwei Leitziele: erstens die rezeptionsgeschichtliche Rekonstruktion und Kritik der Auseinandersetzung mit der genannten Unterscheidung im Kontext der internationalen Kierkegaard-Forschung; zweitens die hermeneutisch und systematisch prinzipielle Analyse und Kritik der Unterscheidung im Kontext von Kierkegaards pseudonymem und erbaulichem Werk bis 1847.

2. Vor allem in den letzten fünfzehn Jahren hat sich in der internationalen Debatte die Auffassung eines ‚existentiellen‘ Charakters ausschließlich der zweiten Ethik durchgesetzt, wobei in der Regel unterstellt wurde, dass sich die materiale Ausführung dieser Ethik vor allem in Kierkegaards Redensammlung Taten der Liebe (1847), die der ersten Ethik hingegen in den ethisch einschlägigen pseudonymen Texten vor 1844 findet. Ich behaupte dagegen erstens, dass die letztere Zuordnung der ethisch-existentiellen Komplexität dieser Schriften weder an sich noch und in der Engführung auf die entsprechenden pseudonymen Texte aus diesem Zeitraum gerecht wird; zweitens, dass auch die Redensammlung von 1847 Kernbestandteile der ersten Ethik in der Sache bewahrt; drittens, dass ungeachtet der o.g. werkgenetischen und sachlichen Zäsur von 1844 die genannte Unterscheidung weiterhin, obschon stillschweigend, als organisierendes Leitprinzip für Kierkegaards ethisch relevante Überlegungen und Texte zwischen 1844 und 1847 fungiert.

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