Filiz Polat

Bramsche am Mittellandkanal im Osnabrücker Land. Niedersachsen. Das klingt mehr nach norddeutsch-bodenständiger Bürgerlichkeit als nach Multikulti. Filiz Polat ist in Bramsche geboren und aufgewachsen, als Kind einer deutsch-türkischen Arztfamilie. Ihr Abitur machte sie in Münster, studierte VWL an der Goethe-Universität in Frankfurt und kam dann in ihre Heimatstadt zurück.

Als die Diplom-Volkswirtin 2004 für Bündnis 90/Die Grünen ihr Mandat im Niedersächsischen Landtag antrat, war sie das »Küken«, die jüngste Abgeordnete und vor allem die erste mit türkischen Wurzeln im hannoverschen Leineschloss. Heute sitzt sie für ihre Partei im Bundestag. Nebenher ist Filiz Polat weiterhin kommunalpolitisch aktiv. Sie gehört sowohl dem Ortsrat als auch dem Stadtrat von Bramsche an. Dass die Politik einmal ihr Beruf werden könnte, hatte sie zwar nicht geplant, aber ein politisches Elternhaus legte den Grundstein dafür. Polats Mutter ist eines der Gründungsmitglieder der Bramscher Grünen, ihr Vater schon seit seinem Medizinstudium ein hochpolitischer Kopf, der sich für einen offenen, weltlichen Islam einsetzt.

Filiz Polat und ihre Geschwister wuchsen in einem Haus auf, in dem politischer Meinungsaustausch zum Alltag gehört. Von Kindesbeinen an war sie – wenn auch nicht selbst betroffen – mit den Problemen und Sorgen auch von Zuwanderern konfrontiert. In der Sprechstunde ihres Vaters, ab den 70er Jahren einer der wenigen türkischstämmigen Ärzte in Norddeutschland, erzählten Patienten von den Nöten aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen und erfahrenen Diskriminierungen.

Seit Beginn ihrer Laufbahn als Berufspolitikerin wird Filiz Polat von vielen Migranten und Migrantinnen als Ansprechpartnerin und auch als Vorbild für viele junge Menschen wahrgenommen. Filiz Polat ist bodenständig und nahbar geblieben, der Berliner »Politik-Blase« zum Trotz. Es stecke noch ganz viel »normale « Welt in ihr, sagt sie. Das ist ihr wichtig. Diejenigen, die Filiz Polat kennen, können das bestätigen.

Frau Polat, Sie gehören seit Oktober 2017 dem deutschen Bundestag an. Wie hat das Ihr Leben verändert?

Abgeordnete verbringen viel, viel Zeit im Zug. Meine Verantwortung ist gefühlt noch einmal größer geworden im Vergleich zur Tätigkeit als Landtagsabgeordnete. Der Deutsche Bundesstag entscheidet beispielsweise über die Bundeswehrmandate und damit über den Einsatz unserer Soldaten in Kriegsund Krisengebieten. Außerdem sitze ich jetzt mit Rassisten im Parlament. Das ist als Abgeordnete, gerade auch mit Migrationshintergrund, schwer erträglich.

Für Ihre Partei sind Sie Fraktionssprecherin für Migration und Integration. Was sind Ihre Ziele für Flüchtlinge aus Krisengebieten wie Syrien und Irak?

Es steht in unserer völkerrechtlichen Verantwortung, geflüchtete Menschen zu schützen, egal aus welchem Land sie kommen. Deshalb setze ich mich für humanitäre Aufnahmeprogramme ein, um sichere Fluchtwege überhaupt erst möglich zu machen, auch, um dem Sterben im Mittelmeer ein Ende zu setzen. Gleichzeitig ist es unbedingt notwendig, anerkannten Geflüchteten eine gesicherte Aufenthaltsperspektive zu geben. Wir müssen uns auf die Integration konzentrieren und nicht mit Abschiebung drohen. Es gibt aus meiner Erfahrung heraus viel zu viele Hürden, die es Geflüchteten erschweren, in Deutschland anzukommen.

Wie wollen Sie eine solche Integrationspolitik gestalten?

Schnellstmöglicher Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt. Gute und ausreichend Sprach- und Integrationskurse. Zentral ist auch, wie gesagt, eine gesicherte Aufenthaltsperspektive. Wir wiederholen die Fehler der Vergangenheit, wenn wir mit der Erteilung befristeter Aufenthaltstitel das Ankommen in der neuen Heimat erschweren. Damit ist niemandem geholfen. Es gehört zu unserer Migrationsgesellschaft, dass wir die Vielfalt in unserem Land wirklich mit Leben füllen. Wir alle sind aufgefordert, diese Gesellschaft mitzugestalten. Manchmal gehören dazu natürlich auch Konflikte, die wir offen ansprechen müssen. Allerdings endet die Meinungsfreiheit dort, wo wir den gesellschaftlichen Grundkonsens verlassen und Artikel 3 unserer Verfassung »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (...)« übergehen.

Sie sind schon als Kind politisch aktiv gewesen. Greenpeace, Grüne Jugend, Kommunalpolitik, Landespolitik, Bundespolitik. Was war und ist Ihr Antrieb, grüne Politik zu machen?

Tschernobyl war für meine Generation in jedem Fall ein Schlüsselerlebnis. Das hat mich dazu bewegt, bei Greenpeace aktiv zu werden. Wie viele andere Menschen will auch ich dazu beitragen, die Welt ein bisschen besser zu machen.

Welche Eigenschaften sind die wichtigsten für eine Politikerin?

Zuhören, Ausdauer und Kompromissfähigkeit.

An der Goethe-Universität studierten Sie Volkwirtschaft, arbeiteten als wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Statistik und Ökonometrie. Zog es Sie nie in die freie Wirtschaft?

Mein Leben als »Berufspolitikerin« war nicht geplant. Was nicht ist, kann ja noch werden. Die Uni und mein Lehrstuhl waren im Übrigen richtig gut.

Der Blick zurück: Was verbindet Sie mit der Goethe-Universität?

Ich erinnere mich einfach total gerne an das Studieren im Turm, meine Arbeit und die damaligen Kolleginnen und Kollegen vom Lehrstuhl. Außerdem mag ich Frankfurt und habe auch noch Freunde dort.

Sie setzen sich für eine starke Verankerung der Wissenschaft in der Gesellschaft ein. Warum?

Die Wissenschaft ist Gradmesser einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft. Sie bietet das notwendige Fundament für die kritische Überprüfung der Zustände, Weiterentwicklung und Innovation in einer modernen Demokratie. Weltweit erstarken autoritäre, nationalistische und rechtspopulistische Strömungen und Autokratien. Sie richten sich gegen Pluralität, Weltoffenheit und Toleranz. Gerade deshalb ist es von kritischer Relevanz, sich dieser Bewegung mit menschenrechtsbasierten und wissenschaftlich fundierten Ansätzen entgegenzustellen. Hier nimmt die Wissenschaft eine Schlüsselrolle ein.

An der Goethe-Universität forschen derzeit mithilfe eines Stipendiums der Humboldt- Gesellschaft geflüchtete türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in ihrer Heimat bedroht sind. Was sollte Ihrer Meinung nach die Bundesregierung tun, um diesen Akademikern eine Zukunft in Deutschland zu ermöglichen?

In der Zeit des Nationalsozialismus gingen mehrere hundert Verfolgte ins Exil in die Türkei. Darunter viele bekannte deutsch-jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ich denke, die Bundesregierung sollte und kann hier auch im Kontext unserer historischen Beziehungen zur Türkei mehr tun, um Universitäten bei der Vergabe von Stipendien zu unterstützen. Dazu gehören auch die unbürokratische Vergabe von Visa zu Forschungszwecken oder die möglichst zügige Erteilung unbefristeter Aufenthaltstitel.

Ihre Familie besitzt ein Sommerhaus auf einer Insel vor Istanbul. Sie erlebten dort die Nacht des versuchten Putsches gegen Erdogan. Können und wollen Sie noch in der Türkei Urlaub machen?

Bisher habe ich mich aufgrund der Erlebnisse bewusst dagegen entschieden. Aber zwei Schwestern von mir leben in Istanbul und die Familie väterlicherseits. Insofern werde ich dieses Jahr in jedem Fall hinfahren, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl.

Wie entspannt sich die Berufspolitikerin Filiz Polat?

Mit meiner Familie im Garten oder mit Freunden bei einem guten Essen und einem leckeren Bier. Äppelwoi schmeckt mir übrigens nur in Frankfurt.

Welches Buch lesen Sie derzeit?

»Eine kurze Geschichte der Menschheit « von Yuval Harari.

Auf was können Sie nicht verzichten?

Meine Familie.

Was ist Ihr Lebensmotto?

Nutze den Tag.

Die Fragen stellte Heike Jüngst